Du sitzt mir gegenüber …

Inzwischen fahre ich nicht mehr nur mit der Bahn, sondern oft mit dem Auto zur Arbeit. Das eröffnet mir zwei verschiedene Perspektiven: Berlin sehen an der Oberfläche und im Untergrund. Das Zugfahren wird dabei wieder zu etwas Besonderem. Gerade U-Bahnen sind für mich Orte der skurrilsten, witzigsten, denkwürdigsten Begegnungen.

Ich kann mich an den Leuten nicht sattsehen. Manchmal ergeben sich regelrechte Menschenstudien. Egal, was sie tun, egal, wer – oder was – sie sind: Sie bereichern mich, ohne es zu wissen, machen mich dann und wann traurig – oder aber, sie tragen unbewusst zu meiner Erheiterung bei.

Ich betrete die Bahn. Das Abteil ist beinahe leer, denn heute bin ich spät dran. Der werktägliche Morgenandrang ist vorüber. Die Kleidung absolut fusselfrei, perfekt gestylte Frisur und glänzende Schuhe als gebe es kein Morgen: So sitzt er da – mir gegenüber in der U2 – und wackelt mit dem Knie. Ein Geschäftsmann wie aus dem Bilderbuch.

Die Türen schließen sich, wir fahren ab und lassen den Alexanderplatz hinter uns. Männer wie ihn sehe ich täglich über den Potsdamer Platz hetzen und dabei auf ihre Armbanduhren schauen. Vermutlich möchte er auch dort hin. Am Bahnhof Märkisches Museum zieht er ein Buch aus seiner Tasche: Martin Suter. Business Class: Geschichten aus der Welt des Managements. Mir entgleitet unkontrolliert ein Seufzer. Er blickt auf und sieht meinen Ruf des Dschungels von Sabine Kuegler. Desinteressiert wendet er sich wieder seinem Buch zu – ich beobachte ihn beim Lesen. Bahnhof Spittelmarkt.

Ein junger, schlaksiger Kerl von schätzungsweise 16 oder 17 Jahren sitzt in einer Ecke. Man hört das Vibrieren der Bassfrequenzen aus den Kopfhörern schallen, dabei wippt er abwechselnd mit Kopf oder Fuß. Ich tippe auf Hip Hop. Sicher ist er auf dem Weg zu seinem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz: Er trägt einen schmutzigen weißen Arbeitsanzug, auf dem blaue und gelbe Farbflecken zu sehen sind.
Sein Handy klingelt, doch er hört es nicht. Ich versuche, es ihm mit einer Handbewegung zu bedeuten, indem ich Daumen und kleinen Finger abstrecke und sie an mein Ohr halte. Als er mich gestikulieren sieht, entfährt ihm ein „Hä?“. Ich sage ihm, dass er angerufen wird. Mürrisch zieht er sein Handy aus der Tasche und nuschelt hinein. Ich verstehe ihn kaum, doch ich vermute stark, dass sich am anderen Ende seine Freundin befindet. Nach einem genervten „Jaja, bis dann“ drückt er sie weg.

Auf der anderen Seite ihm schräg gegenüber sitzt eine ältere Dame, vermutlich eine Rentnerin mit einer mausgrauen Jacke. Sie trägt ihr Haar in etwa dem gleichen Farbton. Ein kleiner, weißer Pudel hockt brav zwischen ihren Beinen und schaut mich an – genau wie sein Frauchen. Ich bin mir sicher, dass die Dame nach Charlottenburg fahren wird. Vielleicht wird sie am Kranzler-Eck ein Frühstück mit Milchkaffee zu sich nehmen, dann ein bisschen spazieren gehen.
Woher kommt sie? Was hat sie in den Osten der Stadt verschlagen? Ich sinniere und denke mir verschiedene Geschichten aus. Ich entscheide mich dafür, dass sie bei einer alten Freundin übernachtet hat. Wir erreichen den Bahnhof Stadtmitte. Noch zwei Stationen.

Wieder ein Blick zum Geschäftsmann. In dem Moment, wo er gewahr wird, dass ich ihn wieder beobachte, hebt er seinen Kopf. Das ist dann auch der Moment, in dem ich meinen abwende. Ich tue so, als würde ich ihn nicht beobachtet haben. Glück gehabt. Ich war allem Anschein nach überzeugend.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er sich wieder sich selbst zuwendet und in der gegenüberliegenden Fensterscheibe begutachtet. Die Frisur sitzt, er neigt den Kopf etwas nach unten, runzelt dabei die Augenbrauen etwas, dann hebt er den Kopf wieder und zieht eine Schnute. Der Teint ist auch gut ja. Sein Buch verschwindet in der Tasche. Meines auch, denn wir erreichen den Potsdamer Platz. Hier muss ich aussteigen. Der geschniegelte Mann tut es mir nach. Die alte Dame schaut uns nach und streichelt dabei ihren Hund. Der Junge wippt mit dem Fuß und gähnt.

Heimat ist ein Gefühl

Als Kind habe ich an heißen Sommerabenden träumend in einem der zahlreichen Bäume auf unserem Grundstück gehockt und mir ein Leben in freier Wildbahn oder im Dschungel ers(p)onnen. Ich brauchte dazu nur mich selbst. Einen Apfel in der einen, ein Buch in der anderen Hand, glitt ich in Gedanken an robusten Lianen herab, fuhr in einem Kanu auf einem reißenden Fluss oder spielte mit wilden Tieren.

Was für mich eine fantasiereiche Vorstellung war, die ich nur aus Erzählungen kannte, ist für manche Kinder Alltag, zum Beispiel für Sabine Kuegler. Wer gern und oft liest und die Bestsellerlisten verfolgt, kennt ihre Geschichte: Die heute 36-Jährige, die in Nepal geboren wurde, lebte von klein auf mit ihren Eltern (beide Missionare und Sprachforscher) und Geschwistern in West-Papua/Indonesien bei den Fayu, einem damals gerade erst entdeckten Kannibalenvolk, um unter anderem Entwicklungshilfe zu leisten und Frieden zwischen die vier verschiedenen Stämme zu bringen.

In ihrer Autobiographie Dschungelkind beschreibt Sabine Kuegler detailgetreu die Erlebnisse und Erfahrungen aus Kindersicht und ohne politische Stellungnahme, die hier auch absolut fehl am Platz wäre: Sie ist wieder ein kleines Mädchen und spielt mit den Fayu-Kindern, isst Würmer, badet im Fluss mit Krokodilen und sammelt jedes Tierchen, das ihr über den Weg krabbelt. Das kleine Mädchen mit dem strohblonden Haar wächst in unberührter Natur auf und lernt von den Einheimischen, wie man Waffen baut und jagt. Das Wort Angst kennt Sabine nicht. Sie lebt in einem Paradies und genießt ihr Glück fernab jeglicher Zivilisation.

Als sie 17 Jahre alt ist, muss Sabine Kuegler dem Dschungel den Rücken kehren und geht auf ein Internat in der Schweiz. Auslöser für das Verlassen ihrer Heimat ist der Tod eines geliebten Fayu-Freundes. Er war wie ein Bruder für sie, und sie fühlt, dass sie den Bruch mit ihrem derzeitigen Leben wagen muss. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Sabine „zwangszivilisiert“ sich selbst in Europa und erlebt einen Kulturschock. Alles erscheint ihr fremd; sie selbst erscheint als Fremde. Oft schaut man sie an als wäre sie von einem anderen Stern; weil sie andere Gewohnheiten, andere Vorstellungen vom Leben hat. Zu sehr hat sie der Dschungel geprägt, zu tief sitzt die Sehnsucht, wieder dorthin zurückzukehren. Doch sie weiß, dass dies inzwischen kaum mehr möglich ist…

Ich kenne nicht viele Menschen, die ein so lebendiges Strahlen in den Augen haben wie Sabine Kuegler. Bei „Beckmann“ sprach sie 2005 über ihr Leben im Dschungel. Das Leben in der Wildnis sei physisch zwar anstrengender, doch wäre sie dort nie unglücklich gewesen. Die hiesige Zivilisation empfindet Kuegler als psychisch belastender, wenn auch körperlich leichter. Heute lebt sie mit ihren mittlerweile vier Kindern im Norden Deutschlands und schlägt sich tapfer durchs Leben. Doch angekommen ist sie hier nicht.

Bei allem, was Sabine beschreibt, sehe ich sie als kleines Mädchen direkt vor meinen Augen. Ich kann tief eintauchen in das, was sie erlebt und gesehen hat; weil sie es bildhaft darstellt – mit vollem Körpereinsatz und mit viel Herz. Bei jeder Frage, die Beckmann ihr stellt, leuchten ihre hellen Augen auf wie zwei kraftvolle Blitze. Sie lächelt kurz, dann antwortet sie. Und es spielt keine Rolle, ob in ihr schicksalhafte, traurige Erinnerungen wachgerufen werden. Als warmherziger, freundlicher Mensch lächelt sie selbst dann, wenn ein verbaler Schwertstich ihr Herz durchbohrt.

Oft wird Sabine Kuegler gefragt, wie sie es geschafft habe, im Dschungel zu überleben. Für einen kurzen Augenblick verschwindet dann ihr wunderschönes Lächeln, und sie sagt bestimmt, dass für sie der Umkehrschluss zählt: Sie wundert sich, dass sie das moderne Leben hier meistert.

Ich spüre, während ich das Video im Internet sehe, mit jeder Faser das Leid und die Sehnsucht, die sie empfindet und wünsche ihr von Herzen, dass es ihr gelingt, zurück zu sich selbst zu finden – wo auch immer sie sein mag. Denn, wie sagt sie selbst so schön: „Heimat ist ein Gefühl“.
Recht hat sie.

Schnitzeljagd

Im Café Mirbach in Weißensee kann man zu fairen Preisen brunchen, lunchen oder die Abende bei Bier und leckerem Abendessen ausklingen lassen. Hier wird dem Gast gemütliches Ambiente an einem kleinstädtisch anmutenden Kirchplatz geboten. Die herzlichen Angestellten und das leckere Essen sind weitere Gründe, warum mein Liebster und ich gestern dort einkehrten.

Wir studieren die Wochenkarte, und mir sticht sofort ein Gericht ins Auge, das ich seit Jahren nicht gegessen habe. Doch ich erinnere mich genau daran, wie gern ich es als Kind hatte. Begeisterung macht sich breit. Ich bin mir sicher, dass ich genau dieses Essen auf meinem Teller haben, ansehen, riechen und schmecken will…

Ich bestelle voller Enthusiasmus das heißersehnte „Jägerschnitzel“. Geschafft. Ich lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander. Der Liebste wählt “Strammer Max”. Als er bestellt, verkneife ich mir einen Kommentar.

Die Kellnerin notiert sich unsere Wünsche. Sie wendet sich zum Gehen ab, überlegt es sich dann aber noch einmal. “Noch zum Jägerschnitzel… Sind Sie aus Ostberlin?” Uh. Der Liebste und ich schauen uns an. Was kommt denn jetzt? “Ich frage nur, weil: Es gibt ja zwei Arten von Jägerschnitzeln…”. Oh. Jetzt wird es journalistisch anspruchsvoll für mich. Ich richte mich auf: “Echt? Welche denn? Was ist denn da der Unterschied?” Die Kellnerin wuschelt sich durch den frechen Kurzhaarschnitt: “Es gibt Ost- und Westjägerschnitzel…”.

Ich kombiniere: Ich bin Ostdeutsche und befinde mich in Ostdeutschland. Demzufolge kenne ich wohl das Ostjägerschnitzel. Für mich kann es nur das eine geben. Und das sage ich dann auch mit Nachdruck. Die Kellnerin grinst und nickt schweigend. Auf einmal dann geht sie weg, ohne mir zu sagen, was es mit dem anderen Schnitzel auf sich hat.

Mein westdeutscher Liebster schaut wahrscheinlich genauso verdattert wie ich. Auch er lechzt nach Entwirrung: “Ich glaube, ich kenne nur das Westjägerschnitzel.” Schweigend starren wir uns eine Weile an. Doch dann schießt es mir in den Sinn: Grandios. West und Ost – vereint an diesem Tisch. Er und ich, wir beide. Vor meinen Augen läuft pathetisch deutsch-deutsche Wiedervereinigung ab, mit dem Jägerschnitzel als unserem sozialistisch-kapitalistischen Verbindungsglied!

Ich kann den Liebsten aufklären und er mich: Ein Ostjägerschnitzel ist eine panierte Scheibe Jagdwurst, zu der man Nudeln in Tomatensauce oder eine Kartoffelbeilage serviert. Das Westjägerschnitzel hingegen ist ein stinknormales, ebenfalls paniertes Schweineschnitzel, zu dem man Jägersauce reicht – mit Champignons. Bei dem Gedanken, was der Liebste wohl gedacht haben mag, als ich ihm vorlas „Jägerschnitzel mit Spirelli in Tomatensauce“, muss ich lachen.
Die Kellnerin bringt unser Essen. Ich haue kräftig rein und bin froh, Ostdeutsche zu sein.