Farbenfroh

Ein unbekannter „Künstler“ wollte sich hier am Rosenthaler Platz in Berlin Mitte wohl zumindest teilverewigen. Dem kleinen Mädchen hat’s gefallen.

Schön anzusehen das Werk – und doch hat das Farbspektakel die Auto- und Radfahrer sowie die Fußgänger ziemlich irritiert. Zum Teil blieben sie mitten auf der Kreuzung stehen und schauten sich ratlos um. Ruckzuck war der gesamte Platz voller Menschen, die bei offenem Mund einfach nur staunten oder – so wie ich – ihre Handykameras starteten.

Aber da kann doch nicht einfach irgendwer kommen und die Straße mit Farbe zukleistern? Und wer soll das vom Asphalt, von den Autoreifen und Klamotten abwaschen?
Der Künstler agierte in weiser Voraussicht:

Wasserlöslich. Schadstofffrei. Biologisch abbaubar – na dann!

Wenn es schön war

Er ist um die siebzehn Jahre alt. Gedankenverloren sitzt er da auf dieser Steinmauer. Er wirkt traurig. Ihm zur Linken eine blühende Wildkirsche. Ein absurder Anblick ist das. Er hält ein Foto in der Hand. Ich beobachte ihn eine Weile aus der Ferne. Minutenlang starrt er auf das Bild. Ein kurzer Blick zu mir, er hat mich entdeckt. Er ist traurig. Mutig gehe ich auf ihn zu und setze mich neben ihn. Irgendetwas sagt mir, dass er nicht allein sein möchte. Sonst wäre er auch gar nicht hier.

Auf dem Bild ist eine junge Frau zu sehen. Ein mittelblonder Pferdeschwanz, ein freches Gesicht mit Sommersprossen – vermutlich aus dem vergangenen Sommer.
„Sie ist so schön.“ Eine Träne kullert ihm über das Gesicht. Er wischt sie schnell weg und schaut mich zaghaft an. Dann brennt sich sein Blick regelrecht in meine Augen.
„Es tut so weh!“ Er sagt es so, als wäre ich sie. Als wäre ich schuld daran. Richtig zornig sieht er aus.
Ich zucke zusammen. „Ja, das tut es immer. Vor allem dann, wenn es wirklich schön war.“ Ich weiß nicht richtig, worum es geht, ahne es nur. Verlegen wackele ich mit den Beinen.
„Stör ich Dich?“
„Das war es. Schön war es, mein ich.“ Er zieht das erste Wort besonders in die Länge. „Nein, störst nicht. Sie hat ’nen Neuen. Ich fühl‘ mich so ausgetauscht … so beliebig. Verstehst?“
Ich nicke.

Er redet, unaufhörlich. Ich sitze einfach da und höre zu.
„Weißt, am schlimmsten sind die Erinnerungen. Erinnerungen, die ich hab und die sie vielleicht gar nich hat. Oder nich mehr haben will.“
Ich schweige weiter. Es gibt nichts Passendes zu sagen. Er hat recht.
Er redet, eine halbe Stunde höre ich ihm zu. Nicke, lächele, bin traurig.
Ich klopfe ihm sanft auf die Schulter. „Das wird wieder. Glaub mir.“
Dann muss ich leider los.

27 Cent

Freitagabend. Wochenende! Noch schnell was einkaufen. Im Zeitraffer angele ich mir die Dinge, die ich brauche und haste zur Kasse. Nur nicht länger aufhalten als nötig. Ein junger Mann im Jogginganzug (aber dafür mit toller Ray Ban-Sonnenbrille!) steht vor mir und packt gemächlich seine Produkte auf das Laufband. Er schnauft und ist verschwitzt. Ein bisschen dicklich ist er. Steht ihm aber gut.

„Ich hab nur 15 Euro dabei“, sagt er zur Kassiererin. „Ob das reicht?“
Abschätzend wirft das brünette Mädchen einen Blick über seine Einkäufe. Sie kräuselt den Mund dabei zu einer Rosette. „Ja, ick denk schon. Und wenn nich, kommt die Milch eben weg, wa?“ Sie lacht laut auf und schaut mich an, als suche sie nach Verbündung. Ich grinse und finde das auch wirklich komisch.

Piep, piep, piep – Die Verkäuferin zieht Produkt über Produkt über den Scanner. Kartoffeln, frisches Gemüse, Fleisch … sieht gut aus. Morgen koche ich auch mal wieder. Das nehme ich mir jetzt fest vor. Steak oder so.

„15 Euro 27 bitte.“
„Och nee! Ich hab doch echt nur 15 Euro mit. Genau 15. Mehr nicht. Ich war gerade laufen, und da …“
„Na, nu ma ruhig mit die jungen Pferde. Geh’n Se morgen wieder hier einkaufen?“
„Wie bitte? Ja …“
„Na, denn reichen Se die 27 Cent eben morgen nach!“ Ein Strahlen huscht über ihr Gesicht.
Sein Strahlen ist größer. „Wow, echt? Danke! Sie sind ein Schatz!“
Und dann folgt die für diese Art Dialog typische Phrase.
„Ick weeß …“ Nur eben auf Berlinerisch.

Wo auf der Welt wird einem noch etwas geschenkt?, frage ich mich. Und freue mich.
So fängt es doch gut an, das Wochenende.

Rohe Ostern

Ostermontag. Ausgedehntes Schlendern entlang der Hafenpromenade in Rostock-Warnemünde. Das Kreischen der Möwen begleitet das Tuckern der vielen hin- und herpendelnden Fischkutter. Wie romantisch. Ein paar Sightseeing-Boote sind auch unterwegs – als da wären zum Beispiel „Min Herzing“ und „Käppt’n Brass“.

Der weite Strand mit seinem feinen, trockenen Sand lädt unsere Füße  zum Versinken ein.  Ich ziehe die Socken aus und tauche ein in die Untiefen des hellen Kühls. Ich habe einmal gehört, dass hier an diesem Strand die Idee für den Strandkorb geboren sein soll. Eine alte, kranke Frau wollte sich vor dem rauhen Wind schützen. Schön, wieder hier zu sein – wenn auch nur für ein paar Stunden.

Ein Fischbrötchen muss her. Unbedingt. Schnell. Wir steuern auf eine der unzähligen Buden zu, die die Promenade säumen. Ich zücke mein Portemonnaie und werfe einen schnellen Blick hinein. Ja, noch genug da. Puh. Sehr cool. Denn der Hunger lässt grüßen.

Mir vergeht ein bisschen der Appetit: Die Verkäuferin schaut grantig drein. Welche Laus ihr wohl über die Leber gelaufen sein mag? Ich seufze tief und zwinge mich zu einem herzlichen Lächeln. Es ist ja nur einmal Ostern im Jahr. Ich bestelle zwei Bismarck-Brötchen mit Zwiebelringen. Stolz nehme ich sie entgegen und lächele erneut. Noch immer keine Gefühlsregung im Gesicht der Fischfrau. Die nächste Stufe meines Freundlichkeitsgebarens muss her. „Frohe Ostern wünsche ich Ihnen noch!“, rufe ich ihr etwas zu laut zu, obwohl sie höchstens drei Meter von mir entfernt steht. Die Verkäuferin schaut mich an als wäre ich ein sprechender Fisch – bestimmt eine halbe Minute lang.
„Sie meinen wohl: Rohe Ostern.“
Natürlich wundere ich mich. „Hä? Wieso?“
„Na, es ist jetzt 16 Uhr durch – und Sie sind die erste Person, die mir heute frohe Ostern wünscht! Die Menschheit verroht! Rohe Ostern sind das …“
Und dann lächelt sie.

Der Süße kriegt das größere der beiden Fischbrötchen – zumindest sage ich ihm das. Es wird ihm schon nicht auffallen: Männer haben ein anderes Empfinden für Größe. Ich schmunzele vor mich hin. Fast wäre mir ein Kichern entglitten. Das lautlose, aber dafür hämische Grinsen kann ich nicht verbergen. Der Süße schaut mich schräg von der Seite an – und hat mich sofort durchschaut. Natürlich lässt er mir mein Brötchen.  Es ist ja nur einmal Ostern im Jahr.