Dasselbe in Grün

6.55 Uhr. Auf meinem altberliner Hinterhof knallt und scheppert es gewaltig. Ach je, die Müllmänner holen die Tonnen. Ich tappe zum Fenster und knalle es lautstark zu. Sollen die doch mitkriegen, dass sie ruhig etwas leiser sein könnten. Hm, hoffentlich habe ich jetzt keine anderen Menschen geweckt. Und schon tuts mir wieder Leid.

Ich krabbele zurück in mein Bett und ziehe die Bettdecke bis über beide Ohren. Kalt. Und es ist noch so ungemütlich dunkel draußen. Da könnte ich doch ruhig noch etwas liegen bleiben … Aber es hilft alles nichts: Ich muss aus den Federn. Alles andere wäre grob fahrlässig bei dem, was heute noch in meinem Terminplaner steht. Zeitmangel. Filterkaffee oder Instant? Naja, im Grunde ist das ja dasselbe in Grün. Hauptsache Koffein jetzt.

Dasselbe in Grün. Wenn wir in zwei Dingen keinen oder keinen großen Unterschied feststellen können, verwenden wir dann und wann diesen Ausdruck. Ja, und warum ist etwas dann nicht dasselbe in Rot, Gelb oder ja … Blau? Warum aber dasselbe in Grün und nicht in Blau oder Rot?

Es ist anzunehmen, dass diese Redewendung aus der Automobilbranche stammt. 1921 brachte der französische Hersteller Citroën sein Modell „CV5“ heraus. In Deutschland begann Opel drei Jahre später,  Autos in Serie herzustellen. Das erste Auto in Massenproduktion hierzulande war der Opel 4 PS. Er war nicht nur klein, sondern auch nur in grüner Farbe erhältlich. Umgangssprachlich wurde das Auto deswegen auch „Laubfrosch“ genannt. Und jetzt zum Wesentlichen: Weil der Opel 4 PS nun eine Kopie des französischen CV5 war (der wurde nur in zitronengelb hergestellt), war er eben dasselbe (Auto) in Grün.

Die gleichen in bunt: Tragschrauber in Hildesheim

Silvia Friedrich: „Stadtluft macht frei“

Bertas Zug fährt in den Bahnhof ein. Sie schnallt sich den Rucksack fester und steigt aus. „Hier will ich leben,“ denkt sie, als sie durch das Menschengewimmel auf die Straße drängt. Großstadtluft nimmt ihr den Atem. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blinkt eine Neonreklame: MITDEMBÄRZUMMILLIONÄR.

Berta liest es zweimal. Es dämmert bereits. Sie geht los, steigt die Stufen zur U-Bahn hinab, lächelt dem russischen Akkordeonspieler zu und wartet am Gleis. Selbst hier unten ist es heiß. Die einfahrende Bahn wirbelt herumliegendes Papier auf. Als sie einsteigt, gibt es kein zurück.
Die große Stadt wartet auf Opfer. Sie hat Berta schon gesehen. „Du entkommst mir nicht mehr,“ sagt sie und bläst die Lichter an, die bis zum Morgengrauen alles beleuchten werden, was nicht beleuchtet werden will.
Berta hört ihre eigenen Schritte auf dem Asphalt. Lichter spiegeln sich in Pfützen, weisen den Weg. Da lang. Sie steht vor einem Haus mit Graffiti. Beim Hineingehen bleibt ihre Jacke an einer Schraube in der Tür hängen. Sie reißt sich los.
„Hätten Sie ein Zimmer frei?“ Sie stellt ihren Rucksack ab. Erst jetzt merkt sie, wie schwer er war. Die Frau ihr gegenüber oder ist es ein Mann, fragt, wie lange sie bleiben will.
„Ein paar Tage, vielleicht länger“, sagt Berta und fühlt sich etwas unwohl. Zuhause in ihrem Dorf sitzen jetzt alle beim Abendbrot. Die Turmuhr schlägt, und der letzte Bus aus der Kreisstadt fährt durch den Ort.
Die Mannfrau legt einen Schlüssel hin, an dem ein Plastikbär baumelt. Berta nimmt ihn, hebt den Rucksack an, der nun viel schwerer scheint als vorher und steigt die Treppe hoch, die zu ihrem Zimmer führt. Ein kleiner Raum, auf einem Holztischchen schlägt eine Polyestertischdecke Falten. Die junge Frau legt sich aufs Bett und beobachtet die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos. Berta weint.
„Schlaf Berta“, raunt die große Stadt. „Du wirst dich schon daran gewöhnen. Ich singe dir ein Wiegenlied. Schlaf, Berta, schlaf.“
Sie hört eine Melodie, die aus einem Lokal neben dem Hotel herüberweht. Sie kennt das Lied, versucht den Text zu flüstern. Bevor sie sich erinnert, schläft sie ein.
Als der Morgen durchs Fenster kriecht, rumpeln Müllkästen in der Größe von Kleiderschränken über den Asphalt. Müllmänner schreien sich undeutliche Wortfetzen zu. Berta schaut hinaus. Der Verkehr stockt, da die Kleiderschränke die Straße versperren. Zwei Männer streiten sich, ein Hund hebt sein Bein am Müllauto, Radfahrer beanspruchen den Bürgersteig. Als Berta nach einer halben Stunde auf die Straße tritt, hat sich das Verkehrsknäuel aufgelöst. Die Häuser sind viel höher als zuhause. Fußgänger rempeln sie an im Vorbeigehen. Auf der anderen Straßenseite stehen Stühle und Tische vor dem Laden. Sie durchquert den fließenden Verkehr und lässt sich auf einem Draußenstuhl fallen. Sie bestellt einen Kaffee bei der Kellnerin und sieht sich um. Ab und zu kann sie zwischen den vorbeifahrenden Autos ihr Hotel erkennen. Es wirkt freundlich am Tag.
„Ist hier frei?“ Berta blickt zu einer Frau in schwarz hoch, die neben ihrem Tisch steht. Ihre roten Haare leuchten in der Sonne. „Ja, klar“, sagt Berta. Sie lächeln sich an. Die Rote holt eine Zeitung aus ihrer Jacke, beginnt zu lesen.
„Neu hier?“, fragt sie, ohne aufzublicken.
„Äh, merkt man das?“ Bertas Gesicht verfärbt sich etwas.
„Ja.“ Die Rote blättert in ihrer Zeitung, legt die dann zur Seite. „Studium?“
Berta schüttelt den Kopf: „Zu viel Provinz, versuche es jetzt hier.“
„Was kannst du?“ Die Rote sucht in ihren Taschen nach Zigaretten, findet welche, zündet sich eine an.
„Ich war bei uns im Drogeriemarkt, hab‘ eine Lehre angefangen, nicht zu Ende gemacht.“ Die Kellnerin kommt, bringt Berta den Kaffee. Die Rote nimmt einen Tee: „Lädst du mich ein?“, fragt sie Berta. Die nickt.
„Ich schlage mich hier seit acht Jahren durch“, sagt ihr Gegenüber. „Anfangs wollte ich nur einen Monat bleiben, aber dann … Irgendwas hielt mich hier. Ich konnte nicht weg.“
„Jaja“, sagt die Stadt lächelnd und beobachtet die beiden.
„Was machst du so?“, fragt Berta.
„Alles. Modeln, verkaufen, eine Weile habe ich bei einem reichen, alten Knacker gewohnt. Der ist verstorben. Dann erbten seine Kinder. Ich ging leer aus, musste wieder auf die Straße.“
„Und jetzt?“ Berta hüstelt. Der Rauch weht ihr ins Gesicht. „Jetzt suche ich neue Leute in der Stadt, die mir mal einen Tee ausgeben.“ Die Rote drückt ihre Zigarette aus. „Ich heiße übrigens Vanity. Das heißt Eitelkeit. Gut, ne? So hat mich mein Sugardaddy genannt. Eigentlich heiße ich Doris. Kein Mensch heißt heute noch Doris. Meine Oma war ein Fan von dieser Amitussi, die immer mit dem schwulen Typen in den Filmen spielte. Kennste?“ Berta schüttelt den Kopf.
Die Kellnerin bringt den Tee. Die Rote trinkt hastig. „Du wirst sicher irgendwas finden“, sagt Vanity und erhebt sich „Muss weiter, ciao.“ Sie rennt über die Straße, mehrere Autos halten mit quietschenden Reifen. Vanity steht auf der Fahrbahn und winkt. Berta sieht ganz klein aus an ihrem Tisch auf dem Draußenstuhl.
„Man, kannste nich einmal pünktlich sein?“ Elsa schleppt Kisten mit Klamotten auf den Bürgersteig. „Los, schieb den Ständer mit den Jacken nach draußen, ist schon spät.“
„Keine Hektik. Das Leben ist früh genug zu Ende.“ Vanity zieht ihre schwarzen Schnürstiefel aus und setzt sich hinter die Ladentheke.
„Auch du lebst von diesem Schuppen. Mach endlich.“ Elsa verschwindet im hinteren Teil des Ladens und kommt mit gefüllten, blauen Säcken nach vorne.
„Guck die Klamotten mal durch und häng sie auf. Gute Teile acht, die nicht so dollen fünf oder drei.“
„Hast du eigentlich schon mal über dein Leben nachgedacht?“, fragt Vanity und holt sich die letzte Zigarette aus ihrer Jacke. „Ich meine, so richtig.“
„Du sollst im Laden nicht rauchen, Mensch.“ Elsa ist schon wieder draußen, ordnet auf dem Bürgersteig Kleidungsstücke an einem Ständer.
„Leben ist ein ständiges Geben und Nehmen“, überlegt Vanity laut.
„Ja, besonders Nehmen“, murmelt Elsa und räumt leere Kartons und Plastiksäcke weg.
„Als ich noch bei Sugardaddy wohnte …“
Elsa bleibt stehen. „Also entweder du machst jetzt was oder …“
Vanity erhebt sich mühsam, wirft die Kippe durch die Ladentür auf die Straße.
Sie nimmt sich einen Plastiksack vor und wühlt darin herum: „Wow, guck dir das Teil an.“ Sie zieht sich ein rosafarbenes Babydoll über. „In dem Ding könnte ich mich wieder Doris nennen.“

Es ist schon spät, als Elsa in die U-Bahn steigt. Selbst alle Stehplätze sind besetzt. Ein Jugendlicher beißt in einen Kebap. Geruch von Hammelfleisch. Elsa versucht sich irgendwo festzuhalten. Die Bahn hält, viele steigen aus, noch mehr wieder ein. Der Mann neben ihr riecht nach Giraffenhaus. Im Bahnhof dichtes Gedrängel. Alles strebt aus dem U-Bahnschacht. Luft. Luft.
„Stellt euch nicht so an“, raunt die Stadt „Ihr habt es so gewollt.“
Auf der Straße vor Elsas Haus stapelt Fatih Erbasan leere Obstkisten zusammen. Als er sie sieht, nimmt er eine Hand voll Feigen und hält sie ihr hin: „Hallo Elsa.“ „Danke.“ Sie nimmt die Früchte, beißt in eine hinein. „Wie lief das Geschäft heute?“ Fatih verzieht das Gesicht. „Und bei dir?“
„Geht so.“ Sie greift sich mit der linken Hand in die blonden Haare.
Fatih lächelt. „Hast du Zeit für einen Tee?“
„Cay?“ lächelt Elsa.
„Ja, Cay.“ Der junge Türke zeigt mit der Hand auf seine Ladentür.
„Nee, muss los. Adrian wartet.“
„Lass ihn warten“, sagt Fatih „Er lässt dich auch warten.“
„Wie kommst du darauf?“ Elsa verschluckt sich.
„Weil ich es sehe, jeden Tag.“ Er gibt den Obstkisten einen leichten Stoß mit dem Fuß.
„Das kommt dir nur so vor.“ Elsa lächelt ihn wieder an und geht über den Hof ins Hinterhaus. Drei Kinder kommen ihr entgegen, reißen sie fast um, die restlichen Feigen fallen auf den Boden. „Hee, aufpassen.“ Elsa steigt die Treppen hoch.
Als sie die Tür aufschließen will, merkt sie, dass die nicht verschlossen ist.
„Bist du schon da?“, ruft sie in den Flur. Niemand antwortet. Im hinteren Zimmer sind Geräusche zu hören. Sie geht zu der verschlossenen Tür, öffnet sie leise. Adrian und eine unbekannte Frau sind zu vertieft, um sie wahrzunehmen. Beide liegen in eindeutiger Position auf seinem Sofa. Sie glaubt zu ersticken, hat die Luft angehalten, schließt dennoch die Tür ganz leise wieder. Nicht leise genug. Beide auf dem Sofa schrecken hoch. „Elsa, warte mal …“, ruft Adrian. Er bindet sich eine herumliegende Decke um und rennt hinter ihr her. An der Wohnungstür kann er sie aufhalten. „Du hast es doch gewusst, oder?“ Er hält sie mit der rechten Hand fest, die Linke versucht, die rutschende Decke zu greifen.
„Nein, lass mich los.“
„Komm, es war doch schon lange nichts mehr zwischen uns.“
„Lass mich los!“ schreit sie und rennt aus der Wohnung, aus dem Haus. Als sie über die Straße will, kann ein Auto im letzten Moment halten. „Bescheuert, was?“, brüllt der Fahrer aus dem Auto heraus, prescht davon. Elsa sinkt zusammen und heult. Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. Es ist Fatihs Hand. Sie lässt sich von ihm aufhelfen. „Komm mit“, sagt er. Beide gehen in den Laden. Fatih schließt ab. „Ich habe deinen Freund gesehen mit … schon oft. Du bist zu schade für ihn.“ Elsa heult. Der junge Mann macht einen Tee. Als er drei Stunden später die Lichter löscht, bleibt sie bei ihm.
Die Stadt ist zufrieden und bläst die Laterne aus, die direkt vor dem Haus wacht und noch nie kaputt war.
„Musste das sein?“ Die Frau in Adrians Arm bläst Zigarettenqualm in die Luft.„Irgendwann musste sie es doch erfahren. Heute war eine gute Gelegenheit.“
„Du bist brutal“, sagt die Frau und nimmt ihre Sachen, verschwindet damit ins Badezimmer. Sie kennt sich aus hier.
„Willst du nicht bleiben?“, ruft er durch die Tür „Elsa kommt bestimmt nicht mehr. Heult sich irgendwo aus.“
„Nein“, tönt es dumpf aus dem Bad. Die Frau kommt wieder heraus, stellt sich vor den Flurspiegel, kämmt sich mit den Fingern durchs kurze Haar und malt die Lippen nach.
„Wozu machst du das?“ raunt Adrian und hält sie von hinten fest. „Du sollst keine anderen Typen anmachen.“
„Ich mache an, wen ich will“, sagt die Frau, drückt seine Hände weg und zieht sich die Jacke an.
„Ich bringe dich.“ Adrian greift zu seiner Jacke an der Garderobe.
„Nein“, sagt die Frau und geht zur Tür „Du bleibst hier.“
Sie rennt auf die Straße, blickt zum türkischen Obstladen. Es ist alles dunkel. Die Straßenlaterne scheint kaputt. Sie geht ein paar Schritte, winkt einem Taxi zu. Im Halten öffnet der Fahrer das Fenster: „Wo soll’s hinjehen?“ Sie steigt ein, und er braust davon. Die Frau holt ein Handy aus ihrer Tasche und beginnt zu telefonieren: „Ich komme jetzt nach Hause. Ja, jetzt schon. Ich gehe nicht mehr zu ihm. Nein, bestimmt nicht. Was? Ja, jetzt gleich … Können sie mich da vorne aussteigen lassen?“ Sie tippt dem Fahrer auf die Schulter.
„Jeht klar.“ Er sieht ihr nach, wie sie im Dunkel verschwindet. Der Fahrer startet wieder, fährt ein paar Straßen weiter und hält an.
„Morjen Maxe.“ Eine brünette Frau kommt aus einem Mietshaus auf ihn zu, rennt weiter.
„Lass dir nich klaun, Elisabeth“, ruft er ihr nach und packt seine Brote aus.
Zufrieden räkelt sich die Stadt. Fast hätte sie verschlafen. Sie pustet die Laternen aus und weckt ihre Leibeigenen.
Elisabeth rennt zum ersten Bus am Morgen. Jeden Tag sitzt um diese Zeit der Penner auf den Stufen der Wäscherei, neben sich einen Pappteller. Ab und zu wirft Elisabeth eine Münze darauf. Heute nicht, da sie es sehr eilig hat. Der Penner sieht ihr nach, überlegt, ob es im Bus wohl schon geheizt ist. Eine Gruppe Lachender erweckt seine Aufmerksamkeit. Sie kommen langsam die Straße hoch, haben eine Flasche, die von einem zum anderen wandert. „Dann habe ich dem Kellner in den Arsch getreten …“, lacht einer von ihnen. Er trägt einen feinen schwarzen Anzug, sein Hemd ist bis auf die Brust aufgeknöpft, eine Samtfliege baumelt rechts am Hals. Die anderen kichern, können kaum weitergehen. Als sie auf der Höhe des Penners ankommen, beginnt das offene Hemd in seiner Hosentasche zu kramen. „Och, guckt mal da …, der Arme“, gickert eine Frau in weißem Pelz. Der suchende Mann wird nicht fündig, torkelt etwas, als er dem Sitzenden seine Champagnerflasche hinhält: „Da, sollst nicht leben wie ein Hund.“ Er schüttet die Flüssigkeit auf dem Boden. Alle lachen, ziehen weiter. Ihre Stimmen sind noch lange zu hören. „Sie brauchen dich“, flüstert die Stadt. „Du bist wichtig für sie, damit sie sich gut fühlen können.“
Der Geruch des Alkohols steigt dem Penner in die Nase. Da er noch nichts gegessen hat, kommt’s ihm vor, als würde es ihn betrunken machen. „Weiß ich noch, wie ich heiße?“, denkt er. Er stellt sich die Frage jeden Tag. Er hat sich geschworen, seinen Namen niemals zu vergessen, denn der ist ihm noch geblieben. „Richard, glaube ich.“ Er überlegt angestrengt. Schnellen Schrittes kommt ein junger Mann die Straße herauf. Er bleibt stehen: „Wie geht’s dir heute?“, fragt er den Mann auf der Treppe und gibt ihm eine Tüte mit Brötchen in die Hand „Willste nicht mitkommen? Ich fahre nach Britz in die Papierfabrik, fünf Euro die Stunde. Los, komm.“
„Die nehmen mich nicht,“ sagt der Sitzende.
„Faule Ausreden, Mann. Ich muss los. Biste abends noch hier?“ Der junge Mann verschwindet im U-Bahn-Schacht, rennt die Treppen hinunter, schafft gerade noch die Bahn, die bereits die Türen schließt. Die Fahrt ist lang. Zunächst muss er stehen, erwischt dann aber einen Platz. Neben ihm sitzt ein dicker Mann. Immer wieder reibt der sich schnaufend die Schweißperlen von der Stirn. Der junge Mann blickt sich um. Einige Gesichter sieht er jeden Tag, manche sind neu. Ihm gegenüber hält eine Frau eine Zeitung vor ihr Gesicht, sodass er etwa auf Augenhöhe die Schlagzeile „Blutrache in Neukölln“ lesen kann. Der Zug hangelt sich durch die Stationen, macht dabei eintönige Geräusche. Der junge Mann wird müde. Ab und zu nickt er weg, schreckt immer nur dann auf, wenn die Bahn ruckartig hält. Die Neuköllner Blutrache macht knisternde Geräusche. Mit geschlossenen Augen vermutet er, dass die Frau gegenüber die Zeitung zusammenfaltet. Er blickt kurz hoch und lächelt, weil sie sich fast umbringt mit den einzelnen Seiten, die der Reihe nach auf den Boden fallen.
„Gleich gibt’s eine Blutrache in der U-Bahn“, sagt er, und sie lächelt zurück. Er hilft ihr beim Aufheben der Blätter.
„Danke“, sagt sie. „Ach, entschuldigen Sie, kennen Sie sich aus in der Stadt?“
„Na klar.“ Er weiß noch nicht, ob er sich freuen soll über diese Begegnung. Sie kramt einen Zettel hervor, auf dem eine Adresse zu lesen ist.
„Wissen Sie, wo das sein könnte?“, fragt sie, und ihr Gesicht verfärbt sich leicht, als sie ihn ansieht.
„Das ist auf meinem Weg. Sie müssen nun leider mit mir mitkommen bis zu meiner Haltestelle.“, antwortet er und blickt aufgeregt zur Seite. Wie gut, dass ich diese Bahn noch geschafft habe, denkt er, und wie gut, dass sie nicht weiß, wo ich arbeite.
„Arbeiten Sie dort?“, fragt sie.
„Nein, ich besuche jemanden.“, antwortet er. „Und Sie?“
„Ich soll mich da vorstellen in einem Drogeriemarkt. Ich bin neu in der Stadt, suche eine Stelle.“
„Ich heiße Robert“, sagt er. Sie lächelt. „Und ich Berta.“
Die Stadt genießt befriedigt, wie Busse und Bahnen durch ihren Körper jagen und angenehmes Kribbeln erzeugen. Die Menschen kitzeln wie Ameisen. Sie streckt sich und ächzt dabei, dehnt sich und atmet tief durch. Technisches Versagen war es nicht, sagen die Menschen dann immer, wenn in solchen Momenten eine Jahrmarktsgondel aus ihren Halterungen springt. Das U-Bahn-Abteil mit Robert und Berta macht in diesem Augenblick einen kleinen Hopser, aber beide glauben, dass das am großen Glück liegt, den anderen getroffen zu haben.

Marlene Pardeller – Insussuration in French

Monika Heil: „Ich liebe ihn“

Wirklich! Ich liebe ihn sehr. Deshalb schweige ich, wo andere Frauen mit Anklagen kämen. Ich will nur sein Bestes. Sogar neulich, als ich begriff, dass er eine Freundin hat, habe ich nichts gesagt. Aus Liebe! Das geht vorbei, habe ich mich beruhigt und – ich hatte recht. Nach sechs Wochen kam er abends wieder pünktlich nach Hause. Keine Ausreden, wenn ich fragte, wo er so lange gewesen sei. Keine angeblichen Überstunden mehr. Kein fremder Parfumgeruch an seinen Hemden. So geht das seit Jahren. Natürlich bin ich wütend. Sauer! Aber dann sage ich mir: Rosa, was willst du, auf deine alten Tage allein sein? Nur noch mit dem Hund reden? Nein, antworte ich mir dann. Ich freue mich jeden Abend auf ihn, wenn er von der Arbeit kommt. Auch wenn er abgespannt ist und wortkarg.

Ich warte auf seine erste Frage, wenn er zur Tür hereinkommt: „Was gibt’s zu essen?“
„Überraschung!“, rufe ich dann und gehe in die Küche. Ich liebe ihn und seine Lügen. Oh ja, ich merke ganz genau, was wahr ist und was nicht, wenn ich ihn frage:
„Was gibt es Neues in der Firma?“ Viel erzählt er ja nicht.
„Nichts Besonderes“, brummt er meist nur.Ich liebe jedes seiner einhundert Kilo. Ich liebe sein inzwischen schon etwas schütteres Haar. Ich liebe unsere Gespräche, auch wenn sie nach vielen Jahren nichtssagend und ohne Überraschungen sind. Aber wir sprechen noch miteinander. Das ist mir wirklich wichtig. Wenn ich da an unsere Nachbarn denke. Sie sitzt abends ganz allein vor dem Fernseher. Er kommt höchstens einmal im Monat vorbei. Das kann er sich auch sparen, denke ich, wenn ich sein Auto höre und dann hinter der Gardine nach ihm sehe. Aber das geht mich eigentlich gar nichts an.

Ja, ich liebe ihn. Als ich letztes Jahr nach einer Geschäftsreise seinen Koffer auspackte, musste ich doch mal schlucken. Kondome! Eine ganze Packung. Dann stellte ich fest, dass sie noch vollzählig waren. Hätte ich ihn zur Rede stellen sollen? Wozu? Offenbar hatte er ja keine Gelegenheit gehabt, sie zu benutzen, obwohl er mit dieser jungen Kollegin – wie heißt sie doch gleich? Ach ja, Britta Schneider. Also, obwohl er mit dieser Britta Schneider in München war. Geschieht ihm recht. Die junge Frau war offenbar vernünftiger als er – ein Mann von zweiundfünfzig Jahren und dann noch so … na ja. Ich gebe ja zu, ich mache mir zu viele Gedanken. Ella, meine beste Freundin sagt, das sei nicht normal, als ich kürzlich nicht einmal mit in das Konzert ging, auf das wir uns beide so lange gefreut hatten. Ich wollte nur vermeiden, dass Heiner abends in die leere Wohnung kommt. Das war damals, als er angeblich so viele Überstunden machen musste. Da hat sie gemeint, ich solle mal zum Psychiater gehen. Was weiß die denn schon von Liebe?

Ich liebe ihn nun mal. Und lieben heißt, alles verzeihen, habe ich irgendwo gelesen. Ja, ich habe meinem Heiner auch verziehen damals, als ich ihn spät abends aus diesem obskuren Club kommen sah. Es war ein schöner Sommerabend gewesen, und ich war spät noch mit dem Hund draußen. Ich bin da ganz zufällig vorbei gekommen. Ehrlich! Oder im Unterbewusstsein, nachdem ich in seiner Hosentasche dieses Streichholzbriefchen gefunden hatte mit dieser eindeutigen Werbung. Ich habe nur eine halbe Stunde mit dem Hund hinter den Büschen gewartet, und da kam er zufällig heraus, gerade als ich endlich gehen wollte. Nein, er hat mich nicht gesehen. Obwohl, er hat mich irgendwie komisch angeschaut, als ich zehn Minuten nach ihm mit dem Hund zurück kam.

In einem ist er ja diskret, mein Heiner. Es ruft nie eines seiner Flittchen hier an. Wahrscheinlich melden die sich nur auf seinem Handy. Das trägt er immer bei sich. War ja anders gemeint, als ich es ihm im letzten Jahr schenkte. Ich hatte mir gedacht, er freut sich, wenn er zu jeder Zeit mit mir Kontakt haben kann. Bei seinen vielen Außendiensttouren erreiche ich ihn doch nie, wenn mal was ist. Wenn er Innendienst hat, ist das viel einfacher. Da kann ich ihn schon zum Frühstück im Büro anrufen und erzählen, was ich für den Abend Schönes für uns koche. Wenn ich aber auf seinem Handy anrufe, ist immer diese Mailbox dran. Gut, wenn ich dann sage, er soll mich zurückrufen, tut er es meist auch.
Manchmal bilde ich mir allerdings ein, er ist dann sehr kurz angebunden. Na ja, das kostet ja auch alles Geld. Kürzlich habe ich ihm das auch mal gesagt.
„Ich finde das nicht nett von dir“, habe ich ihm vorgeworfen, „dass du dein Handy immer ausgeschaltet hast. Schließlich ist das ein Geschenk von mir.“ Da wurde er ganz schrecklich wütend. „Ich brauche auch mal ein bisschen Privatsphäre!“, hat er gebrüllt. Ein Wort gab das andere. Und zum Schluss hat er doch tatsächlich wieder einmal damit gedroht, sich eine eigene Wohnung nehmen zu wollen. Aber als ich dann anfing zu weinen, da hat er mich gleich in den Arm genommen und gesagt:
„Ist ja schon gut Mutter, ich bleibe ja bei dir.“
Er ist doch ein guter Junge, mein Heiner.

Selbsterklärend, finde ich.

Zieh Leine!

Unterwegs in der Bergmannstraße. „Tiefstes Kreuzberg“. Hier tobt das Leben, und immer wieder fasziniert mich das. Vor mir auf dem Bürgersteig steht ein junger Mann um die 30. Der dünne Kerl hält eine rote Rose in der Hand und schaut verzweifelt an dem Haus hoch, vor dem er steht. Er macht mich neugierig. Ich bleibe stehen und schaue ebenfalls an der Häuserfassage hoch.

Mein Blick bleibt an einem rothaarigen Mädchen mit traumhafter Mähne haften, das aus einem der Fenster schaut. Sie macht ein missmutiges Gesicht. Das steht ihr gar nicht. Oh oh, ich ahne es: Diese Situation hier bedeutet Stress. Langsam und unauffällig bewege ich mich weiter.

„Mann, zieh endlich Leine! Ich will nichts von Dir!“ Sie schreit den jungen Mann an und knallt das Fenster zu. Ich fahre zusammen. Wie gemein. Mitleidig schaue ich ihn an. Er schaut zurück. „Da soll mir mal jemand sagen, dass ich nicht aufgeben soll. Ey, mir reichts!“ Er geht, die Schultern hängen. Ich kann ihn gut verstehen.

Mit der Redewendung Zieh Leine! fordern wir jemanden unsanft auf, endlich das Weite zu suchen. Höchstwahrscheinlich stammt sie aus der Binnenschifffahrt: Damals zogen noch Menschen und Pferde Kähne an dicken Leinen stromaufwärts. In ärmeren Gegenden wird noch heute „getreidelt“.

Auch ordentlich PS: Pferderennen in Hoppegarten