Wo ist Omas Seele?

„Mama, sei nicht so traurig.“
Mein bald Sechsjähriger streicht mir mit seiner immer noch ziemlich kleinen Hand etwas unbeholfen und dennoch selbstsicher über die Wange. Oh Gott, mein Herz …
Seine braungrünen Augen spiegeln sein sanftes, mitfühlendes Wesen wider. Seine immer länger werdenden braunen Haare umfließen das feine Gesicht, in dem ich oft mich selbst und oft auch seinen Vater erahne.

P. schaut jetzt ebenfalls traurig. „Mama, mach‘ Dir keine Sorgen. Omas Seele ist doch hier bei uns.“
Ich horche auf.
„Sie spielt jetzt was mit uns. Jetzt gerade. Wirklich!“
Wie kann das sein? Es überkommt mich, ich weine – und niemand hat etwas dagegen. Ist das schön, was mein Sohn da sagt. Und wie standhaft, unerschütterlich, felsenfest er daran glaubt …

Was bleibt
Nicht meine eigene Mutter, sondern meine Schwiegermutter ist vor einer Weile verstorben – im Januar. Und doch fühlt es sich manchmal an, als wäre es erst gestern gewesen. Doch gestern war kalt, schnell und gierig. Unbarmherzig und dennoch gnädig …
In einem „guten“ Alter war sie, so sagt man: Sie hatte Mitte Achzig fast erreicht. Nicht jung, nicht zu alt, sie hat wohl jedenfalls nicht gelitten an ihrem Ende, behaupten die Ärzte.
Leider ist das nur ein schwacher Trost, denn sie fehlt. Uns allen.

Das Beben ihres kleinen, im Alter rundlich gewordenen Körpers beim Lachen. Die spitzbübisch funkelnden Augen. Das bisweilen sehr energische Wesen, der halblange, graue Pagenschnitt. Ihr „Was soll’s!“ und ihr „Scheiß drauf.“ Das Glas Sekt, nichts Süßes, eher trocken bitte.

Die Mutter meines Mannes, die Großmutter meiner beiden kleinen Jungs und meiner Nichte. „Die mit den drei Überraschungseiern“, weiß P. Wie lange mein älterer Sohn das wohl sagen wird? Immerhin wird er sich an sie erinnern. Der kleine K. hat noch keine Ahnung. Irgendwie ist das auch gut so.
Aber es ist auch so traurig. Denn Oma war prima. Ich wünschte, sie würde auch ihm im Gedächtnis bleiben. Aber was tatsächlich bleibt, ist sie. In K. In P. In ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrer Enkelin … und auch in mir, obwohl wir genetisch nichts teilen. Wir hatten etwa etwa elf gemeinsame, geliebte und gelebte Jahre.

Ich wollte und möchte immer noch, dass ihr Tod uns alle noch enger zusammenschweißt, uns in Liebe und Geborgenheit miteinander „zurücklässt“.

Die Aufbahrung
P. umfasst das Bein seines Vaters. Der bis zuletzt bei Oma C. war. Genau, wie dessen Schwester M. und seine Nichte M. – eine tolle, einfühlsame, und so bodenständige Krankenschwester. Was für ein Team. Ich bin stolz.

P. guckt skeptisch, aber nicht ängstlich. Ich habe ihn auf die – wie er es nennt – „Aufbewahrung“ vorbereitet. Soweit es denn ging. (Geht so etwas überhaupt?)
Oma wird dann anders aussehen, blass. Sie wird nicht schlafen. Nein, sie wird tot sein. Sie ist tot. Ihre Augen werden nur deshalb geschlossen sein, weil man sie geschlossen hat … Aber sie schläft nicht. Ich möchte nicht, dass P. glaubt, seine Oma sei im Schlaf gestorben. Ich möchte nicht, dass er Ängste entwickelt. Verhindern werde ich wohl nichts dergleichen je können, denn Angst kommt. Und geht hoffentlich.
Ich selbst verspüre jetzt gerade eine unbändige Angst.

Es ist soweit.
Auf mich wirken alle soweit „gefasst“, als wir sie sehen. Ich bilde mit meinem bald drei Jahre alten K. auf dem Arm das Schlusslicht, als wir eintreten. Ehrlich gesagt halte ich ihn oben, weil ich so das Gefühl habe, mich hinter ihm verstecken zu können.
Ich halte ihn gewissermaßen umklammert.
Und ich bin es dann auch, die nicht an sich halten kann und sehr und laut weinen muss. Alle weinen natürlich, aber ich muss wirklich die Hand vor den Mund drücken. „Muss“ ich das wirklich? Ich glaube, ich muss. Es tut so weh. Oma tut mir so leid. Immerzu denke ich nur: die Arme.

Und P.?
Sagt, als wir wieder zu Hause sind: „Sei nicht traurig, Mama. Sie ist mit Gott.“
Ja, wirklich?
„Und spielt mit uns Lego.“
Das wäre schön.