„Fehler sind kein Angriff auf den Selbstwert“

Ronja Jürgens ist Vierfachmama von zwei Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen sieben und siebzehn Jahren – und kehrte vor zwei Jahren mit Mann und Kindern Deutschland den Rücken. Der Grund: das hiesige Schulsystem. Ich habe mich einmal mit ihr darüber unterhalten.

Ronja, was hat euch dazu veranlasst, Deutschland zu verlassen?

Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Meine erste Tochter hat einen seltenen Gendefekt, das sogenannte Kleefstra-Syndrom. Sie ist geistig behindert, ging in Deutschland lange Zeit auf eine Förderschule. Hier stand das Kind im Fokus, es war eine wirklich gute Erfahrung. Dann kam unser Zweitgeborener zur Schule. Nachdem wir alles versucht hatten, was das deutsche Schulsystem zu bieten hatte und es unserem Kind immer schlechter ging, weil er sich einfach nicht gewöhnen konnte, bekamen wir vom Jugendamt Unterstützung und Rückendeckung für das Homeschooling. Zu diesem Zeitpunkt war unser Sohn bereits am Ende der vierten Klasse. Die Bewilligung bezog sich auf die nächsten elf Monate. Die Bedingung: Wir mussten wöchentliche Lernberichte einreichen. Nachdem wir in den Sommerferien den ganzen Stoff der vierten Klasse aufgeholt hatten, begannen wir im August mit dem der fünften Klasse. Ich hatte aber leider von Anfang an den Eindruck, die Schule wollte unseren Heimlernerfolg irgendwie boykottieren.

Wie das?

Naja, es kamen beispielsweise vonseiten der Schule Anrufe zu den unmöglichsten Zeiten, Unterlagen fehlten oder kamen nicht rechtzeitig an. Druck, Druck und nochmals Druck. Es kristallisierte sich dann einfach nach einiger Zeit heraus, dass wir keine friedliche Lösung finden können. Ich sprach mit dem Jugendamt, Anwälten, der Rechtsschutzversicherung und bekam die Rückmeldung, dass uns nur noch der Gang vor Gericht bliebe. Dazu fehlte mir allerdings die Kraft, denn ich hatte bereits sechs Jahre für eine Diagnose der Behinderung meiner Tochter gekämpft – und fünf Jahre für meinen Sohn. Und ich hatte dabei noch zwei kleinere Kinder an der Hand. Ich war am Ende, erschöpft. Und wir beschlossen dann im Herbst 2017, das Land zu verlassen, verkauften unser Haus in Münster – und dafür ein tolles Wohnmobil. Im Frühjahr 2018 ging es los.

Wow. Das ist wirklich mutig. Wie ging es dann weiter?

Erst einmal reisten wir nach Holland, dann über England nach Irland, weiter nach Frankreich, immer an der Atlantikküste entlang, das war wunderschön. Dann sind wir erst einmal zurück nach Deutschland, um zu arbeiten und Dinge zu ordnen. Die Firma meines Mannes ist in Deutschland ansässig, er war dort Programmierer; und ich machte die Buchhaltung. Wir lebten in unserem Wohnmobil und in Ferienhäusern. Nach kurzer Zeit zog es uns wieder nach Südfrankreich, Südspanien und nach Portugal, hier verweilten wir einige Wochen. Mein Mann und meine kleine Tochter begannen, sich nach einem richtigen Zuhause zu sehen, und ich machte also eine Liste mit den Dingen, die wir für unser gemeinsames Leben brauchen. Unverzichtbar war, dass Homeschooling legal sein musste und für unsere große Tochter, dass sie sich mit Deutsch weiterhelfen kann. Eine deutsche Freundin schaute mir eines Tages dabei über die Schulter und machte mich darauf aufmerksam, dass doch zum Beispiel Dänemark all das vereinen würde, was wir wollen. Ich belas mich ausgiebig, und dann sind wir im Januar 2019 von Portugal nach Dänemark.

Und seid bis heute dort.

Ja, fest seit Sommer 2019. Für uns passt es hier prima. Wir leben auf der Halbinsel Als, vier Kilometer vom Meer entfernt. Die Große ist mittlerweile siebzehn und geht in eine Förderschule, sie fühlt sich wohl. Der Zweite wechselt zwischen Homeschooling und Freilernen, er kommt ebenfalls gut damit zurecht. Die beiden Kleinen besuchen eine Freie Schule, es sind pro Lehrer zehn Kinder in der Klasse. Hier in Dänemark sagte man anfangs zu mir: „Frau Jürgens, Sie sind die Expertin für Ihr Kind, es ist für uns wichtig zu erfahren, was Sie denken.“ Das bewegt mich bis heute. Ich kenne es so aus Deutschland leider nicht.

Ronja, von Dir stammt der „Schulfrei-Planer“ … 

Genau; als Konsequenz aus den Lernplänen, die ich ja damals für meinen Sohn schreiben musste, habe ich eben diesen „Räuberkinder Schulfrei-Planer“ entwickelt. Er dient der Dokumentation beim Homeschooling und Freilernen und richtet sich eben an Eltern, deren Kinder außerhalb von Schulen lernen. Ich möchte sie damit ermutigen, ihren Kids den nötigen Raum zu geben, etwas über ihre sogenannten Stärken und Schwächen zu erfahren. Fehler sind immer Lernwege und für mich absolut kein Angriff auf den Selbstwert. Wenn man die Beschäftigungen des Kindes dokumentiert, entdeckt man auch, wie viel Lernen im ganz normalen Alltag steckt – egal, ob ein Kind beim Kochen hilft (Kennenlernen der Aggregatzustände) oder Lego baut (Statik).

Zusammengefasst: Jedes Kind hat seine eigene Art zu lernen, deshalb sollte man immer individuell schauen, welche Methode des Lernens gerade zum eigenen Lebens- und Lernbereich passt.

Liebe Ronja, danke für das Interview!
Gerne. Danke Dir auch.

Weitere Infos über Ronja Familie und ihren „Schulfrei-Planer“ bekommst Du hier: https://www.raeuberkinder.net

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im Online-Magazin Hallo:Eltern.