Eva Markert: „Rabentochter“

In Ginas Zimmer war es stockfinster. Trotzdem schaltete ich nicht das Licht ein. Ich wusste sowieso, was ich zu sehen bekommen würde: Dreck und Unordnung – nein, da tappte ich lieber im Dunkeln. Wie spät mochte es sein? Die Leuchtzeiger des Weckers zeigten halb zwei. Was? Schon halb zwei? Dabei hatte sie doch um acht Uhr Schule! Außerdem war es mal
wieder eine Rücksichtslosigkeit von ihr, nicht Bescheid zu geben. Sollte ich mich auf ihrer Schlafcouch ausstrecken? Lieber nicht! Der Gedanke, dass meine Haut das Bettzeug berühren würde, in dem ihr Körper gelegen hatte, ekelte mich an. Sollte ich ins Schlafzimmer hinübergehen und Herbert wecken? Ach, wozu? „Lass dem Kind doch sein Vergnügen“, würde er murmeln. Er ließ ihr immer alles durchgehen. Auf der Straße hörte ich ein Geräusch. Eine Wagentür schlug zu. Vielleicht brachte dieser grässliche Timo, mit dem sich das Flittchen eingelassen hatte, sie endlich nach Hause. Ich tastete mich im Dunkeln zum Fenster. Meine Füße verfingen sich in etwas Weichem – einem Kleidungsstück, das sie achtlos auf den Boden geworfen hatte. Ich trat es aus dem Weg.

Es gab zwei Eigenschaften, die ich auf den Tod nicht leiden konnte: Faulheit und Liederlichkeit. Meine Tochter hatte beide.
„So schlimm ist es doch gar nicht mit ihr“, meinte Herbert oft.
Immerhin war es so schlimm, dass Gina im Sommer sitzenblieb. „Unerhört!“, hatte ich geschimpft. „Ein ganzes Jahr liegst du uns nun länger auf der Tasche.“ Sie sah mich mit ihren giftgrünen Augen an. „Ich weiß, dass du mich am liebsten los wärst.“
„Schätzchen!“ Herbert schien geschockt. „Jetzt übertreibst du aber!“ Doch sie hatte Recht. Heimlich musste ich es mir eingestehen: Meine Tochter störte mich. Herbert hatte dafür kein Verständnis. Gina war sein Augenstern, sein Ein und Alles. Auf der nächtlichen Straße setzte sich ein Mercedes in Bewegung. Ich stieß ein kurzes, spöttisches Lachen aus. Nein, das war bestimmt nicht Timo, dieser Versager! Weder er noch sein Vater würden jemals einen solchen Wagen fahren.

Ein durchdringender Geruch stieg mir in die Nase. Er wehte vom Schminktisch zu mir herüber. Ginas aufdringliches Parfum. Sie sprühte sich immer von oben bis unten damit ein. Es roch billig und – ja, es passte zu Gina. Dauernd hatte sie andere Kerle. Und nun diesen Timo. Wahrscheinlich vergnügte sie sich gerade mit ihm. Angewidert verzog ich das Gesicht. Ich wollte es mir nicht vorstellen, starrte angestrengt auf die dunkle Straße hinunter, doch die Bilder kamen von selbst. Im Geiste sah ich ihre schweißfeuchten Leiber, wie sie sich in schmuddeligen Laken wälzten, hörte sie stöhnen, keuchen, während sie wie Tiere … Ich riss mich zusammen und ging vorsichtig zu dem Korbsessel, in dem Gina sich gern  herumlümmelte. Ich setzte mich und fuhr sofort wieder hoch. Da lag ihre Schultasche, mitten auf der Sitzfläche. So, wie sie sie vor ein paar Tagen fallengelassen hatte. Ich stutzte. Wieso … Wieso hatte ich „vor ein paar Tagen“ gedacht? Ich stellte die Tasche ordentlich neben dem Sessel ab. Eigentlich war es nur ein Rucksack. Sehr bequem, weil man alles einfach hineinwerfen konnte. Ich wäre nicht verwundert, wenn sich zwischen den Schmierblättern und auseinanderfallenden Büchern ein vergammeltes Butterbrot finden würde. Zwei Uhr. Ich machte mir Sorgen, obwohl ich nicht begriff, warum, denn mir lag gar nichts an meiner Tochter.

Ich lehnte mich zurück. Vielleicht wäre es eine gute Idee, mir eine heiße Schokolade zu machen. Träge schoben sich meine Gedanken übereinander. Als Gina noch klein war, hatte ich ihr abends oft Kakao ans Bett gebracht. Während sie ihn trank, las ich ihr etwas vor. Aber dann wollte sie das plötzlich nicht mehr. „Die Bücher sind für kleine Kinder“, sagte sie. „Ich möchte lieber einen eigenen Fernseher.“
„Kommt gar nicht in Frage!“, hatte ich protestiert. Aber natürlich bekam Gina ihren Willen, weil Herbert ihr nichts abschlagen konnte. Was ich sagte, zählte bei den beiden sowieso nicht.

Ich schloss die Augen. War es jemals schön gewesen mit ihr?, fragte ich mich. Ja, als sie noch ein Baby war, liebte ich sie. Und sie mich. Glaubte ich zumindest. Obwohl ich mir da auch nicht ganz sicher war. Ich musste wieder an eine Sache denken, die ich nie vergessen hatte. Das Baby lag auf der Wickelkommode und brüllte. Ich hatte keine Ahnung, warum. Das machte mich verrückt, ich wusste nicht, was ich tun sollte, schüttelte das Kind und schlug ihm schließlich ins Gesicht. Dabei schrie ich: „Sei still!“ Gina riss ihre Augen auf. Schon damals waren sie unglaublich grün. Für einen Moment vergaß sie zu atmen. Und dann trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, den ich noch genau vor mir sehe. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll … Sie sah mich irgendwie – triumphierend an. Und hasserfüllt. In diesem Augenblick kam Herbert herein und Gina fing von Neuem an zu kreischen, so schrill, dass es mir in den Ohren gellte. Herbert nahm sie auf den Arm, und augenblicklich beruhigte sie sich. Ich bin davon überzeugt, dass sie das alles aus schierer Bosheit tat. Sie konnte noch nicht sprechen, aber sie spürte bereits, wie sie uns gegeneinander ausspielen konnte. Ich seufzte. Väter, die ihre Töchter abgöttisch liebten, gab es bekanntlich oft. Aber eins hätte ich wirklich gern gewusst: Mütter und Töchter, die sich verabscheuten – war das auch normal?

Ich blickte wieder auf die Uhr. Halb drei. Wo sich das Balg bloß wieder herumtrieb? Das Telefon schellte. Ich lauschte. Nach dem vierten Klingeln hörte es auf. Wahrscheinlich hatte Herbert im Schlafzimmer abgenommen. Ich ging hinüber. Er hatte das Licht angeknipst und saß aufrecht im Bett. Ich sah, dass seine Hände zitterten. „Das wurde aber auch Zeit“, beschwerte ich mich. Verwirrt blickte er mich an. „Wer war es denn?“, fragte ich.
„Nicht Gina?“ Er wandte den Kopf ab. „Falsche Nummer“, flüsterte er. „Ich erschrecke immer noch zu Tode, wenn nachts das Telefon schellt.“
Wut senkte sich auf mich wie ein Tuch, das mir den Atem nahm. „Das ist wieder mal typisch“, keuchte ich. „Sie macht, was sie will, ohne an uns zu denken. Die ganze Nacht sitze ich nun schon in ihrem Zimmer und warte.“
Herbert wurde ganz weiß im Gesicht. „Aber …“, stammelte er, „aber …“ In seinen Augen glitzerten Tränen.

Bruchstückhafte Erinnerungen zogen plötzlich an mir vorbei. Herbert, der einen langen Gang entlang taumelt, neben ihm zwei Fremde und eine Frau. Sie betreten einen Raum, ich glaube, er ist hellgrün gekachelt. Die Frau wartet draußen. Sie kommen wieder heraus, Herbert nickt, Tränen rinnen über sein Gesicht. Ich sank auf mein Bett. Die Frau, die auf dem Flur gewartet hatte, diese Frau war ich. Und noch etwas fiel mir ein: Herbert hatte gerade Ginas Leiche identifiziert.

Mit einem Mal zerriss das Tuch, das mich beinahe erstickte. Langsam sanken die Fetzen meiner Wut zu Boden. Fragmente eines Zeitungsartikels kamen mir in den Sinn: „Schwerer Unfall – regennasse Fahrbahn – überhöhte Geschwindigkeit. Der Fahrer des Wagens und die Beifahrerin starben noch an der Unfallstelle.“
Ich gähnte, streckte mich auf meinem Bett aus und löschte das Licht. „Wenn du wüsstest“, sagte ich zu Herbert, „wie froh ich bin, dass ich mir nie wieder Sorgen machen und mich nie mehr über sie aufregen muss!“ Ich hörte, wie er nach Luft schnappte und zog es vor, den nächsten Gedanken für mich zu behalten. Den letzten, bevor ich einschlief: „Sie hat nur bekommen, was sie verdient.“

Keine Raben, aber auch ganz nett: Tauben am Trevi-Brunnen in Rom

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