Ingrid Dressel: „Wer die Wahl hat, hat die Qual“

Sex oder Schokolade? Ist das eine Frage? Ja, für Frau im gewissen Alter schon. Neulich überkam sie mich wieder, die Sucht. Zunächst fing es harmlos an. Mit drei Stück Schoko-Sahne-Torte. Danach steigerte ich mich zu einer Lindt Lindor. Als es noch nicht genug war, musste die Nutella aus dem Kühlschrank herhalten. Löffel für Löffel schleckte ich den zarten Schmelz, leckte ihn von den Zähnen … Auf einmal war mir so speiübel, dass ich Mühe hatte, den Gang zur Toilette zu vermeiden.

Im Radio plärrte ein alter Schlager: Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann! Ganz grün im Gesicht, sang ich mit schwacher Stimme mit. So entstand ein fester Entschluss! Aber zunächst musste der Magen beruhigt werden. Um die Ecke im Rewe erstand ich Haferflocken. Da lachten mich die Frauenzeitschriften nur so an, mit Artikeln wie: Wie erreichen Sie den stärksten Höhepunkt? Oder: Hundert Tipps zu gutem Sex. Ich blätterte darin herum. Klang vielversprechend. Nahm ich mit. Zu Hause angekommen machte ich mir erstmal einen Haferschleim. Dann probierte ich die Tipps aus. Aus dem Schlafzimmerschrank holte ich meinen Liebhaber für einsame Stunden. Er ist rosa, hart und vibrierte schon vor Lust …

In meiner Phantasie schwebt Richard Gere neben mir, streicht mir sanft über die Haut und wispert: My Pretty Woman. Ich streichele ihm sanft durch das ergraute Haar. Er benetzt meinen Nacken mit zärtlichen Küssen. Doch plötzlich hüpft Otto wie ein aufgeschrecktes Känguru vor meinem geistigen Auge. Blöder Spielverderber! Im nächsten Moment braust Till Schweiger in einem schicken Kleinwagen heran, steigt aus, grinst mich verwegen an und fragt: Auch ein Bier? Ich fließe weg. Till Schweiger!! Mit mir? Oh, König sei Dank … Und was dann kommt … Oh Gott, neiiin, ein lallender Udo Lindenberg will auch ein Bier und schwer schleppend seine Worte: Alles Paletti, Baby? Muss der sich denn jetzt unbedingt einmischen? Mir
wird schwindelig, und ich tanze mit John Travolta, mit seinem so irren Hüftschwung, Brust an Brust, Bein an Bein … wunderbar. Wir singen und tanzen, wirbeln herum, singen und tanzen, unsere Haut klebt aneinander … Wenn sich nicht auf einmal Mick Jagger mit seiner Riesenröhre einmischen würde. Schreit aus Leibeskräften laut und vernehmlich: I can´t get no satisfaction, cause I try, I try, and I try … Alles verdorben.

Ich muss es anders angehen. Also – heut Abend, ab in die Disco. Zunächst bade ich in einem Milch-Honig-Bad, dann ein Peeling. Stecke mir Taschentücher in meinen BH. Die Frisur sitzt, noch etwas zuppeln. O.K. Nur der Lidschatten ist verrutscht. Voller Inbrunst singe ich mit Ina Deter: Ich sprüh’s an jede Häuserwand, neue Männer braucht das Land.

Ohrenbetäubende Musik. Gedränge. Wie soll man da jemanden finden? Nur Mut!
Shaggy singt: Strength of a woman. Also lächeln, immer nur lächeln. Meine Pumps bringen mich um. Rempelt mich da doch einer an. Wackelig, auf diesen Absätzen knicke ich um. Wütend will ich losschnauzen.
Hoppla – da steht er nun: Otto in Reinkultur, mit dem Charme von Udo Lindenberg. Er röhrt wie Mick Jagger: „Tschuldigung.“ Er guckt betreten. „Mach ich gut. Willst ’n Bier?“ Warum eigentlich nicht?, sage ich mir. Nach dem dritten Bier finde ich ihn sympathisch. Zu dir oder zu mir? Na klar, sagt er und wir fahren zu mir.
Morgens wache ich auf mit Sägegeräuschen. Ist das der Hauswirt mit seinem Kaminholz? Plötzlich Ruhe … Strahlend schielt mich das Sägewerk neben mir an. Den Silberblick hatte ich gestern Abend mangels schräger Biersicht nicht bemerkt. Wir suchen unsere Slips unter der Bettdecke.
Frühstück? Der Kühlschrank gähnt vor Leere. Einzig ein ausgekratztes Nutella-
Glas steht auf der Spüle. „Isst wohl gerne Schoko?“, konstatiert er. Gut – eben kein Frühstück. Melde dich mal – meint er, meine ich.

Nachmittags zieht mich die Versuchung an. Jetzt ein Stracciatella-Eisbecher mit viel Schokosoße. Den gönne ich mir. Kaufe aber auch Obst, Gemüse, Käse und Naturjoghurt.
Es geht auf Ostern zu, und meine Schoko- sowie Frühlingsgelüste nehmen zu. Tags drauf erscheint er an meiner Tür. Mit einem Riesen-Schokohasen, massiv. Eine Mordskreation aus dunklem Nougat und weißer Schokolade, umrahmt von Trüffeleiern. Ein Wunderwerk. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. „Wegen der Nutella …“ meint er.
Er steht strahlend – erwartungsfroh – da. Na?, sagt er. Ich blicke zwischen beiden hin und her. Ich schlucke. Was genieße ich jetzt?  Wer die Wahl hat, hat die Qual.

Fast so gut wie Sex: heiße Schokolade

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