Liebling, unser Kind schrumpft!

Kindchenschema adé

„Mama, nimm mich hoch!“ Mein Sechsjähriger steht vor mir und hebt weinend die Arme; lang ist er geworden, total schlaksig. Wie gut erinnere ich mich an die anstrengenden Zeiten, in denen er diese vier Worte eigentlich ständig zu mir sagte. Da war mein Sohn etwa zwei Jahre alt. Wann ist eigentlich sein Babyspeck verschwunden? Wann sind seine Gesichtszüge so gereift?

Kindchenschema adé: Mein P. ist definitiv kein Kleinkind mehr. Seit ein paar Tagen ist er ein Schulkind – und hat sich in ein Wesen verwandelt, das ich manchmal gar nicht wiedererkenne.  Was ist da los? Welchen Entwicklungsschub macht der arme Kerl da jetzt gerade wieder durch? Klar, sein Körper wächst und mit ihm sein Verständnis für die Welt. Fragen über Fragen stellt er – manchmal klingeln mir regelrecht die Ohren. Doch sein Inneres scheint zurzeit zu schrumpfen: Er benimmt sich wieder wie ein Kleinkind.

„Mama, du hast K. viel lieber als mich“

Auf dem Tisch vor mir liegt das Buch „Wackeln die Zähne – wackelt die Seele“. Ich bin bereit. Dann mal her mit Information und gutem Rat. Die Autorinnen Monika Kiel-Hinrichsen und Renate Kviske behaupten Folgendes: Kinder im Alter wie mein ältestes befinden sich in einer Art Pubertät, der sogenannten Wackelzahn-Pubertät, die man im Volksmund auch als „Sechs-Jahres-Krise“ bezeichnet. Jedenfalls beschreiben die Damen in dem Werk sehr anschaulich, wie wenig unser Junge aktuell allen anderen Menschen traut – und am wenigsten aber wohl sich selbst. Oho! Und genau das lässt er seine Umgebung momentan auch spüren.

„Mama, Du hast K. viel lieber als mich“, sagt er über seinen um fast genau drei Jahre jüngeren Bruder. „Mich liebst Du gaaar nicht, Du kümmerst Dich nur um den!“ Sätze wie diesen sagt er aktuell manchmal aus heiterem Himmel und schaut mich dann so seltsam an. Auf eine Reaktion wartend, abschätzend, prüfend. Da müssen wir jetzt wohl alle gemeinsam einfach durch – am besten mit viel Lachen …

Mein Kind glaubt – nein, er weiß für sich: Niemand liebt mich

P. kommt aus der Schule. Er ist müde. Klar, lernen ist anstrengend. Ausruhen möchte er nicht, aber mit mir spielen. Er schlägt „Mensch ärgere Dich nicht“ vor. Oh-oh. Meine Alarmglocken schrillen. Heute wird das höchstwahrscheinlich nach hinten losgehen – und nicht so sehr viel mit Lachen zu tun haben. Erste Runde. Mein Sohn verliert – und die Erde bebt. Ich sehe, wie sich sein kleiner Körper verkrampft. Er will das Spiel noch einmal von vorn beginnen. Und schummelt. Er will nicht mehr spielen. Er weint. Doch dann: Mein Sohn gewinnt! Puh, da habe ich aber jetzt Glück. Doch nicht. Die Erde bebt trotzdem …

Steht dazu auch was in meinem schlauen Buch? Ich lese und verinnerliche: Der Sechsjährige glaubt – nein, er weiß für sich: Niemand liebt mich. Und jetzt habe ich auch noch gewonnen! Da hat Mama mich ja noch weniger lieb! Gewinnen möchte ich aber trotzdem ..

Was für ein Dilemma! In seiner Haut möchte ich wirklich nicht stecken. Ich atme tief durch und beschließe, erst einmal das Mittagessen fertigzustellen. Während die Zwiebeln vor sich hin brutzeln, denke ich an den inzwischen verstorbenen dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Und wie er einmal gesagt hat, dass man seine Familie als ein spannendes und neues Projekt betrachten soll, „dessen einzelne Teilnehmer nicht von vornherein bestens qualifiziert sind.“ Beruhigend, finde ich und nehme mir fest vor, mir das so oft es geht vor Augen zu
halten.

„Mama, DU sollst mir die Schuhe anziehen!“ – Das kann er doch schon lange allein…

Nach dem Mittagessen möchte P. „in Ruhe“ sein Hörbuch hören. Das geht klar, eine kleine Pause käme auch mir sehr gelegen. Pustekuchen. Der kleine Bruder – seit zwei Tagen im Kindergarten – kommt angerannt und möchte mit P. spielen. „Nein!“, brüllt der da plötzlich los. Und mein Kind Nummer zwei, das selbst unglaublich müde ist, erschrickt natürlich so sehr, dass er das Weinen beginnt. Na toll.

Einige Zeit später. Ich muss noch einkaufen. „Mama, DU sollst mir die Schuhe anziehen!“ Wie bitte? Das kann mein „Großer“ doch schon lange allein. Genau das gebe ich ihm verbal zu verstehen. „K. ziehst Du auch immer an, ich will das auch!“ Aha, daher weht der Wind. Na gut, dann gebe ich heute mal nach und helfe ihm damit. Denn es ist wirklich ein anstrengender Tag, und ich muss zusehen, dass wir alle da unfallfrei und unbeschadet durchkommen.

Zurzeit muss ich wirklich stark sein

Ich habe jetzt also einen „Wackelzahn-Pubertierenden“ und ein Kleinkind in der Autonomiephase, das neu in der Kita ist. Und beide Lebensphasen haben folgende Parallelen: die Euphorie auf der einen und das Betrübte auf der anderen Seite. Das Auf-und-ab, das Hin-und-her, die Launenhaftigkeit, die innere Zerrissenheit, die Ohnmacht, die Wut, das Chaos. Beide Kinder wissen zur Zeit einfach nicht, wo sie hin sollen mit all ihrer Energie, ihrer neuen Kraft, ihren Gefühlen. Und sie streiten und streiten. Ach ja, und sie streiten.

Zurzeit muss ich wirklich stark sein. Doch dass ich ihnen ihre Freiheiten gebe und sie ihnen an anderer Stelle wieder nehme – je nachdem, wie es gut für sie ist und sie es gerade brauchen – ist manchmal wie ein ziemlich schmerzhafter Spagat. Aber ich weiß ja: Das alles gehört zum Größerwerden dazu. Unsere Kids lösen sich wieder ein Stück von uns Eltern, sie werden selbständiger. Und genau diese wachsende Autonomie macht ihnen dann wiederum Angst, und sie suchen Halt bei uns.

„Mama, ich bin doch kein Baby mehr!“

Wie sich das wohl für mein frischgebackenes Schulkind und meinen Kita-Zwerg anfühlen mag? Den Alltag, so wie beide Jungs ihn bisher kannten, gibt es nicht mehr. Die Veränderung wirkt bedrohlich und fremd, doch zugleich ist da diese unbändige Neugierde, die Spannung und Vorfreude auf das Neue. Ich werde ein bisschen traurig und muss schlucken. Bestimmt ging es mir damals als kleines Mädchen genauso.

Und da steht er nun vor mir, mein nicht mehr ganz kleiner, aber eben auch noch nicht sehr großer Sechsjähriger. Er hat sich das Knie gestoßen – heute übrigens schon zum zehnten Mal oder so – und weint fast wie damals, als er noch ganz klein war. Es scheint, als würde er am liebsten in mich hineinkriechen. Ich nehme ihn hoch und halte ihn ganz fest. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter. „Mein kleiner Schatz“, sage ich liebevoll und leise, während ich ihn etwas wiege. Entsetzt hebt er den Kopf und schaut mich an. „Mama, ich bin doch kein Baby mehr!“

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