In der Pasta liegt das Glück

Spaghetti „Frutti di Mare“. Ein Glas Rotwein. Mit meinem Süßen den milden Septembertag ausklingen lassen: Was für eine herrliche Vorstellung, die sich heute Abend bewahrheiten soll. Noch bin ich allerdings an meinen Schreibtisch gefesselt. Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und schaue aus dem Fenster. Dabei kipple ich lässig mit dem Stuhl – und falle beinahe hinten über. Mein Herz rast vor Schreck. Noch mal gut gegangen. Ich gucke, ob jemand guckt. Glück gehabt, niemand hat es bemerkt. Zwei Fensterputzer seilen sich von außen gemächlich an den Scheiben des Großraumbüros ab. In perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungen reinigen sie das Glas. Das sieht wirklich gut aus. Ich gerate ins Schwärmen. Stundenlang könnte ich ihnen zuschauen. Vielleicht hätte ich Fensterputzer werden sollen; dann müsste ich hier drinnen nicht so sehnsuchtsvoll nach draußen schauen. Andererseits: Einer der Arbeiter starrt sehnsuchtsvoll zu mir herein. Schnell wende ich mich wieder der Arbeit zu.

Ein Blick auf die Uhr ein paar Stunden später verrät, dass der wohlverdiente Feierabend erreicht ist. Fast überschlage ich mich beim Zusammenpacken der Unterlagen auf dem Schreibtisch und stoße mit dem Fuß gegen den Bürostuhl. Ich ernte mahnende Blicke von acht Paar Augen. Doch ich lasse mich nicht beirren… Zu reizvoll ist der Gedanke an leckere Pasta. In Windeseile mache ich mich auf den Weg. Raus aus der Redaktion, rein in die Freiheit. In der U-Bahn krabbelt mir eine mutige Fliege über die Hand. Ich überlege, sie unsanft zu verscheuchen. Das kleine Biest kitzelt mich allerdings sehr angenehm mit seinen unwillkürlichen Bewegungen. Die Fliege darf bleiben. ‚Nicht aufhören‘, flehe ich sie telepathisch an und schlafe fast ein… Um ein Haar verpasse ich meine Haltestelle.

Ich treffe mich mit dem Süßen bei einem relativ bekannten Spezialmarkt für überwiegend südeuropäische Produkte in Charlottenburg. Es ist 15 Minuten vor 20.00 Uhr, und der Feinkostladen wird laut Öffnungszeitenplan an der Tür gleich schließen. Perfektes Timing: Wir sind die letzten beiden Kunden und können uns frei bewegen. Kein Gedrängel und Gerempel. So macht das Einkaufen Spaß. Hier gibt es alles, was der anspruchsvolle Magen begehrt – vom Veltliner über Trüffel bis hin zum Grouperfilet. Mein Magen ist da eher bescheiden: Er verlangt lediglich nach frischer italienischer Pasta und exquisiten Meeresfrüchten. Da wir bereits wissen, was wir wollen, bewegen wir uns zielstrebig auf dieses und jenes Objekt unserer Begierde zu. Ohne es zu ahnen werden wir wenige Sekunden später selbst zu Objekten: zu Opfern.

Ich stehe am Käseregal zwischen Brie und Parmigiano und höre Krach. Es klingt, als würde eine Schrankwand umgefallen sein. Ich beuge mich vor, schaue zum Eingangsbereich – und traue meinen Augen nicht. Ein paar Männer schlagen mit Äxten auf Vitrinen und Regale ein. Systematisch zerstören sie, was sie gerade erspähen. Weinflaschen und Einweckgläser gehen zu Bruch. Zwei der Männer laufen scheinbar wahllos herum. Ich zähle nach: Es sind sechs insgesamt. Alle tragen dunkle Kleidung, Cargohosen und Bomberjacken; mit dunklen Wollmasken halten sie ihre Gesichter bedeckt. Glasscherben und Holzsplitter fliegen durch die Gegend, eine Mitarbeiterin schreit auf.

„Das ist ein Raubüberfall!“, sagen nicht die Täter, sondern ich entsetzt, aber ruhig zu meinem Süßen. Er glaubt, ich scherze. Doch als einer der Männer an uns vorbei rennt, dunkel, maskiert, mit einer Pistole in den Händen, erkennt auch mein Begleiter den Ernst der Lage. Er umarmt mich. Wir machen uns ganz klein. Bloß nicht auffallen. Jeder noch so schlechte Hollywoodthriller demonstriert, dass Überfallende in erster Linie eines wollen: einschüchtern, aber nicht töten. Wir senken den Kopf und schweigen. Und doch sind wir mittendrin. Der Laden scheint von Menschen zu wimmeln, obwohl wir die einzigen Kunden sind.

Zwei Maskierte zerren den Geschäftsführer in den Tresorraum. Die anderen sehe ich nicht. Wahrscheinlich sind sie schon draußen und halten dort die Stellung. Sie scheinen den Süßen und mich zu ignorieren. Zumindest beachten sie uns nicht. Noch nicht. Und später? Wollen sie dann unser Geld? Was, wenn es ihnen nicht genügt? Mein Freund bemerkt meine Not und streicht mir über den Kopf. Ich habe Vertrauen zu ihm, doch langsam werde ich unruhig und suche in Gedanken systematisch nach einer Fluchtlösung. Ich studiere den quadratischen Raum, an dessen Ende wir uns befinden. Hinter uns befinden sich eine Fleisch- und eine Fischabteilung. Sie münden nach hinten raus in einen relativ langen Flur.

Ich blicke mich mit hektischen Augenbewegungen nach einem Notausgang um. Mein Blick bleibt auf der Fischabteilung haften. Ich bedeute dem Süßen, mir zu folgen. Schritt für Schritt – sehr langsam – bewegen wir auf die Tür zu. Ich sehe, dass mein Freund nicht unbedingt begeistert ist von meiner Idee, doch sie scheint zu funktionieren: Wir nähern uns der Tür. Gleich sind wir hier raus. Die Angst schwindet mit jedem Schritt in Richtung Freiheit.

Doch mein Plan geht nicht auf: Auf dem Flur hinter der Fischabteilung sehe mich großen schwarzen Augen gegenüber. Knapp unterhalb dann den Lauf einer ebenso dunklen Pistole. „Hinlegen!“ schreit er. Ich kann nicht. Ich habe das Gefühl, gelähmt zu sein. Ich stehe da, starre ihn an. Die Sekunden kommen mir vor wie lange Minuten. Was denkt er? Hat er Panik, weil er auf mich zielen muss? Genießt er es? Ich kann es nicht erkennen. Dann ist auch schon alles vorbei. Die Täter flüchten aus der Tür, die ich mir als Fluchtweg erdacht hatte. Mein Süßer und ich sacken in uns zusammen. Es ist vorbei.

Irgendwann stehen wir draußen vor dem Laden, Mitarbeiter und Kunden – im Schock vereint – und zünden uns eine Zigarette nach der anderen an. Einer zittert am ganzen Körper, eine andere scheint zu frösteln. Sie hält ihre Arme fest verschränkt vor der Brust. Der Süße schaut mich besorgt an. Doch ich stehe einfach nur da und ziehe an der Zigarette. Spontan überkommt mich der Gedanke, meine Chefin anzurufen und ihr mitzuteilen, dass sie sich für morgen sicherheitshalber Ersatz für mich suchen sollte. Ich denke an die Arbeit, die im Büro wartet. Ich denke an alles, nur nicht über das nach, was soeben passiert ist.

Abends liege ich in der Badewanne. Heißes Wasser umspült meine Gelenke, Knochen und Muskeln. Wie wohlig sich das anfühlt. Ich fühle mich geborgen. Und dann passiert es. Es dringt in mich – unberechenbar wie eine Flutwelle. Doch ich lasse es gewähren. Ich setze mich mit dem Überfall auseinander und realisiere – einmal mehr – die Zerbrechlichkeit des Seins.

Ich lasse alles zu: die Angst, die Wut und die Trauer. Jemand hatte die Kontrolle über mich, über mein Leben. Doch hätte alles im Grunde noch viel schlimmer kommen können… An diesem Abend sehe ich mich noch außer Stande, die lang ersehnte Pasta zu genießen. Doch ich habe die Möglichkeit dazu. Jederzeit. Weil ich lebe. Italienische Pasta mit Meeresfrüchten – das bedeutet Glück. Bei diesem Gedanken überkommt mich ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit. Ich lebe.

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