Unterwegs im Schwarzen Land

4.30 Uhr. Weckruf von der Rezeption. Heute sind wir den fünften Tag in Hurgada/Oberägypten und werden in etwa einer Stunde nach Luxor aufbrechen. Es wird ein heißer Tag, man spürt es bereits.

Wir fahren im bewachten Konvoi mit etwa 50 Reisebussen. Durch die Sahara. Durch Geröllwüste. Dann und wann ein Auto, das uns entgegenkommt. Verlassene Beduinenstätten, auf denen eine Spur von Sand liegt. Unser Reiseleiter erzählt uns ein paar Anekdoten über die Wüstennomaden, wie und wovon sie leben, was ihnen wichtig ist.

8.00 Uhr. Bei einem Zwischenhalt in der Wüste steigen wir aus dem Bus. Uns erwarten ein paar Beduinen mit ihren Kindern. Sie stehen vor den Bussen, wollen Geld oder Geschenke. Eine Frau hält ein kleines Mädchen an ihrer linken Hand. Mit der rechten führt sie ein Dromedar. Dann und wann läuft das kleine Mädchen umher, um sich fotografieren zu lassen. Anschließend streckt sie die Hand nach „Bakschisch“ (Almosen) aus. Die Mutter streicht dem Dromedar sanft über das Haupt. Beduinen lieben ihre Dromedare und Kamele. Sie begegnen ihnen mit Respekt – geschlachtet werden die Tiere nur selten und zu besonderen Anlässen.

10.00 Uhr. Etwa 50 Kilometer fahren wir am Nil entlang. Wir sehen Bauern und ihre Kinder, Esel, Schafe, andere Haus- und Nutztiere. Etwa 80 Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind Bauern. Das Nildelta ist besonders fruchtbar, deshalb lebt hier der Großteil der Bevölkerung. Zum Teil bauen sie ihre Häuser noch aus dem Schlamm des Nil. Baden sollte man in dem Fluss nicht.

Reiseleiter Hamdi formuliert es in eindringlichen Worten: „Kann man im Nil baden? Ja, kann man. Aber nur einmal.“ Vergiftet ist er, und nur wer Glück hat, zieht sich keine Krankheiten zu… Dennoch gibt es Einheimische, die es tun. Auch das Wasser, das aus den Hähnen fließt, sollte man besser nicht trinken. Es lauern Magenverstimmungen und Durchfall. In Hotel wird man sogar davor gewarnt, sich die Zähne mit dem giftigen Nass zu putzen. Hier sollte besser Mineralwasser verwendet werden.

15.00 Uhr. Angekommen im Tal der Könige. Wir schauen uns die Grabstätten an. Überall lauern Bettler, Händler und Straßenjungen darauf, dass man ihnen etwas abkauft oder ihnen Bakschisch gibt. Zum Teil gehen sie mit ausgebufften Methoden vor, um ihre – echten oder falschen – Waren (darunter Papyrus, aus Stein gefertigte Skarabäen etc.) an den Mann zu bringen.

Ein Mann steht vor dem Grab zu Ramses III und knipst unsere Tickets. Er gibt uns Teile von Pappkartons und bedeutet uns, dass wir sie zum Luftfächeln verwenden können. Das finden wir nett, doch bereits den Weg hinunter in die Grabstätte ahnen wir, was er will: Ein Trinkgeld, wenn wir wieder rausgehen. Wir legen die Pappe beiseite.

Wir sind in einer Alabasterfakturei. Hier bietet man uns Tee an, bedeutet uns, dass wir uns in Ruhe umsehen und anschließend entscheiden können, ob wir etwas erwerben. Ich mache ein Foto. Der Geschäftsführer lächelt mir zu, winkt und zeigt mir schöne Motive. Ich ahne erneut etwas und mache lieber keine Bilder mehr…

Als mein Süßer und ich den Laden verlassen wollen, bestätigt sich mein Verdacht: Der Mann kommt auf uns zu und schaut uns zornig an. „Du hast Foto gemacht, also musst Du zahlen.“ Seufzen. Ich erwidere, dass ich das Foto lösche, und wir gehen aus dem Laden. „Nein, Du musst Foto nicht löschen. Aber ich brauche Geld für meine Kinder! Wer fotografiert, muss zahlen!“ Ich gebe vor, kein Geld dabei zu haben, und wir flüchten in den Bus. Man hört ihn draußen fluchen. Doch rein darf er nicht. Es scheint eine stille Abmachung zwischen Touristenführern und Händlern zu geben: Der Bus als Fluchtstätte.

Alter vor Reichtum

Der Bus biegt bereits um die Ecke. Ich muss mich sehr beeilen, um ihn zu erwischen. Doch glücklicherweise bin ich im Training und laufe mühelos zur Haltestelle. Gerade so geschafft. Ein wirklich gutes Tempo, das ich da an den Tag gelegt habe.

Beim Fahrer bestelle ich ein Ticket und krame gleichzeitig in meinem Portemonnaie, um ein paar passende Münzen hervorzuziehen. Das Kleingeld reicht nicht, also muss ich mich im Fach für das Großgeld umsehen. Nur ein 50-Euro-Schein. Ich ziehe ihn langsam hervor und schaue den Busfahrer fragend an. Er runzelt die Stirn, dann macht sich ein Ausdruck des Bedauerns um seinen Mund breit. Er schüttelt den Kopf. Ich verstehe.

Aussteigen und irgendwo wechseln? Keine Zeit. Doch dann kommt mir eine Idee. Ich bitte den Fahrer um ein wenig Geduld und schlängele mich durch den Bus. In der Mitte, die eigentlich für Eltern und Kinderwagen oder für Rollstuhlfahrer reserviert ist, komme ich zum Stehen.

„Kann jemand einen 50-Euro-Schein wechseln?“ rufe ich laut durch das große Gefährt. Verständnislose Gesichter. Ein Bengel grinst. Schweigen. Ich verharre kurz in meiner Position und überlege mir einen Plan B. Doch dann lässt eine alte Dame Gnade walten: Ich sehe, wie sie ihre Geldbörse durchsucht und wende mich verlegen ab. Ich schaue zum Busfahrer, der inzwischen angefahren ist. Ich muss mich festhalten, damit ich nicht ins Schleudern gerate.

Ein Geschäftsmann aus den hinteren Reihe ruft mir zu, dass er wechseln könne. Glück gehabt. Ich bewege mich auf ihn zu, doch die alte Dame versperrt mir mit ihrer Hand den Weg. Sie winkt mir vorwurfsvoll mit ihren Scheinen zu. ‚Nimm MEIN Geld‘, sagt ihr Blick.

Für wen sich jetzt entscheiden? Ich überlege kurz und sage beinahe zu dem Mann: „Tut mir leid – Alter vor Schönheit“. Doch schön ist er nicht, und das weiß er wohl. Und die Dame? Wäre wahrscheinlich beleidigt, wenn ich ihr das Attribut „alt“ entgegenwürfe. Ich wende mich dem Mann zu, zucke kurz, aber diplomatisch, die Schultern und hoffe auf sein Verständnis. Dann widme ich mich der Dame.

Flussball

Urlaub. Sommer, Sonne und ein paar Stunden an der Spree. Ich bin in eine hin- und mitreißende Lektüre vertieft. Erst ein paar Seiten gelesen und schon sympathisiere ich mit dem jungen Clown und seinen weisen Ansichten. Dann und wann beim Nachdenken der Blick auf ein vorbeischipperndes Boot, eine schnellere Yacht oder die „Charlottenburg“, die gleich in der Nähe anlegen wird, um neue Passagiere aufzunehmen. Es ist Nachmittag, viele Leute sind unterwegs, um sich Berlin vom Schiff aus anzusehen. Ein paar Enten und eine Schwanenfamilie schwimmen ebenfalls vorbei. Mensch und Natur – zumindest hier scheinbar im Einklang.

Der laute Schrei eines Jungen reißt mich aus meinen Leseträumen. Ich spüre einen leichten Windhauch in meinem Rücken – in der Vorahnung, dass sich etwas oder jemand rasend nähert. Tatsächlich: Als ich mich umdrehe, kommt er geflogen: ein Fußball. Ich versuche, ihn aufzuhalten. Leider kann ich nicht verhindern, dass er im Fluss landet. Einen Meter vom Ufer entfernt prallt er auf das Wasser, dreht sich ein paarmal mit Kraft um die eigene Achse, pendelt sich dann wippend aus und liegt dann beinahe still auf dem Fluss.

Ich beuge mich vorn über, hoffe, dass die Strömung den Ball etwas in meine Richtung schiebt. Ein Schiff oder ein Boot könnten jetzt behilflich sein. Doch gerade ist nichts in Sicht. Der Fußball treibt davon, langsam und immer in Richtung Osten. Ich lege das Buch beiseite und folge ihm ein paar Meter.

Hinter mir ein herbeieilender Junge. Wahrscheinlich der, zu dem der Schrei von eben gehört. Als er mich ratlos anschaut, zucke ich die Achseln und sage ihm, dass ich alles versucht hätte. Er weiß Bescheid, doch die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er runzelt die Augenbrauen und überlegt. Als er versucht, den Ball zu fassen, verliert er beinahe das Gleichgewicht. Heftig rudert er mit den Armen und macht dabei dennoch eine erstaunlich elegante Figur. Sportlich. Ich bin beeindruckt, muss mir aber dennoch ein Grinsen verkneifen. Und doch atme ich tief durch, als er sich wieder aufrichtet.

Das Rund treibt immer weiter und kommt noch immer nicht nahe genug ans Ufer heran. Der Junge holt einen Stock und versucht, den Ball zu erreichen als er sich einer Böschung nähert. Doch dann bewegt er sich plötzlich weiter ins Zentrum des Flusses hinaus. Ein lauter Verzweiflungsseufzer – und der Junge rennt zurück zum Sportplatz. Wahrscheinlich gibt es dort noch einen anderen Ball. Eine Weile noch sehe ich dem davonschwimmenden Leder zu, dann setze ich mich und vertiefe mich wieder in die Lektüre. Der Clown und Marie kommen sich näher.

Wieder ein Schrei. Derselbe Junge. Doch diesmal ist es ein Freudenschrei. Ich orte die Richtung, aus der er kommt und sehe den Kleinen auf der anderen Seite der Spree winken. Er hält den Fußball stolz in seinen Händen. Er hat ihn also tatsächlich erwischt. Wie lange hat er wohl dort gestanden und dem Ball in sehnsuchtsvoller Erwartung kommen sehen? Ich bewundere seine Geduld und Konsequenz. Strahlend schaut mich der kleine Kerl an, ich sehe selbst auf die Entfernung den „Sieg“ in seinen Augen glitzern. Dann brüllt er mir zu: „Ich haaab‘ iiihn!“. Ich winke zurück, als er auch schon auf sein Rad steigt und davonrauscht. Der Clown weint, als er seinen Bruder Chopin spielen hört.

Menschen als CMS?

Es geschieht ganz unbewusst. Es passiert, um uns selbst klarzumachen, wie ein bestimmter Mensch – das Objekt unserer Beobachtung – wohl ist: Wir stecken ihn in eine Schublade.

Dieses Schicksal ereilt jeden von uns. Wir sehen uns, scannen uns förmlich mit den Augen ab, riechen, hören und erleben uns. Dabei entwickeln wir die sich erst formenden Bilder bereits in unseren Köpfen zu unserer individuellen Realität. Einer Realtität, die uns so gefällt – genau so, wie sie ist. Ob wir nun recht haben oder nicht… Wir verleihen Menschen Eigenschaften, und im Idealfall behalten wir mit unserer Einschätzung recht. Manchmal irren wir uns jedoch gewaltig.

Ich denke an ein CMS – ein Content Management System: Menschen, denen wir begegnen, ordnen wir Kategorien zu, genau wie wir im CMS unsere Beiträge den Kategorien zuordnen und diese wiederum in bestimmte Bereiche schieben…

Doch Vorsicht: Auffällig ist, was sich in keine Schublade pressen lässt. Man sollte sie deshalb immer ein wenig geöffnet lassen, denn sie könnte unverhofft aufgehen… und wir wären verletzt.

Mein Leben mit Söhnen