Höhenflug

Nun sitze ich hier, zusammengekauert auf der Rückbank einer Cessna 172 Skyhawk. Ich ärgere mich, denn ich habe mich zu etwas hinreißen lassen, das ich eigentlich gar nicht will. Menschen gehören auf den Boden, nicht in die Luft. Sonst wären sie Vögel geworden. Ich seufze und schnalle mich an. Noch die Sonnenbrille aufsetzen, damit meine Flugangst nicht so auffällt. So, jetzt sehe ich richtig lässig aus. Dumm nur, dass die Sonne gar nicht scheint.

Nervös bewegt sich mein Knie auf und ab. Ein Blick aus dem leicht verschmutzten Fenster. Dunkle Wolken ziehen aus der Ferne heran, sie wirken bedrohlich. Der Liebste und sein Fliegerfreund vorne im Cockpit entscheiden, nur eine Platzrunde zu drehen. Eine größere Tour wäre jetzt zu riskant; später eventuell, wenn das Wetter besser ist. Die Kerle sind sichtlich enttäuscht darüber, dass sie mir vielleicht nicht mehr als das hier bieten können. Ich tue so, als wäre ich auch betrübt und nicke mitfühlend vor mich hin. In Wahrheit bemitleide ich mich aber gerade selbst und verfluche mich in Gedanken, vorher kein Testament verfasst zu haben.

Die Cessna hüpft zur Piste. Tapfer mache ich gute Mine zum vermeintlich bösen Spiel. Pilot und Copilot unterhalten sich über das Prozedere und machen – wahrscheinlich um mich aufzumuntern – kleine Späße zum Thema Fliegen. Die finde ich aber gar nicht lustig. Ich zwinge mich zu einem gequälten Lächeln und trage es mit Fassung. Lässig. Immerhin trage ich meine Sonnenbrille. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Aber der muss ja auch nicht fliegen.

Ich bin ganz hibbelig und überlege, wieder auszusteigen. Zu spät: Der Pilot drückt den Gashebel. 20 Knoten, 40… 60… Mein Liebster tätschelt mir vom Copilotensitz aus das Knie und fragt, ob alles in Ordnung sei. Mit einem inzwischen auf den Lippen festgeforeren Lächeln schiebe die Sonnenbrille noch weiter ins Gesicht. Bestimmt habe ich jetzt Abdrücke um die Augen. Bei etwa 70 Knoten hebt die kleine Maschine etwas wackelig ab. Der Wind sticht ihr in die Seite.

Schon sind wir oben. Das ging schnell. Es ruckelt ziemlich, und ich fühle mich unbehaglich, aber nicht so sehr wie damals in der Eifel beim Segelfliegen oder den Linienflügen, die ich bisher alle überlebt habe. Die Wolkenfront nähert sich, nach dem Downwind gehen wir schon in den Right Base, den rechten Queranflug. Eine Kurve. Hua! Meine Hände krallen sich in die Oberschenkel. Final. Alles geht ganz schnell. Wir landen, und prompt beginnt es zu regnen. Der Wind ist auch heftiger geworden. Perfektes Landing.

Am Boden beschließen wir, noch etwas zu warten. Vielleicht klärt es sich auf. Dann könnte man doch noch eine Tour machen. Insgeheim wünsche ich mir, dass es so bleibt, wie es ist. Natürlich klärt es sich auf. Durch die Wolken bricht die Sonne, und als es komplett aufhört zu regnen und der Wind nachlässt, dreht mein Liebster noch ein paar Platzrunden, bevor wir uns zu viert erneut in die Cessna setzen. Er gesellt sich zu mir auf die Rückbank; auf dem Copilotenplatz sitzt jetzt der ehemalige Fluglehrer der beiden Fliegerfreunde.

Es geht in Richtung Brocken. Ich staune, denn der Flug ist angenehm ruhig. Ich genieße die Aussicht. Geometrische Formen in der Gestalt von Feldern, Wäldern, kleineren und größeren Orten. Uns zur Rechten macht sich ein großer Regenbogen breit. Inzwischen bin ich kühn geworden: Ich wage einen Griff in meinen Fotorucksack und ziehe sogar die Kamera heraus, mit der ich das farbige Naturwunder einfange.

Nach einem knapp einstündigen Flug trinken wir am Flugplatz Stendal einen Kaffee, vertreten uns kurz die Beine und treten dann den Rückflug an. Mein Liebster, jetzt in der Rolle des Piloten, fragt die anderen Männer, ob sie etwas dagegen hätten, wenn seine Süße zu ihm nach vorne käme. Haben sie nicht. Ohne zu murren quetschen sie sich auf die Rücksitze. Als der Pilot die Maschine sicher in die Luft bringt, bewundere ich ihn heimlich.

Ich lasse die Muskeln locker, schaue mir die Landschaft zur Rechten und den Flieger mir zur Linken an. Er bombardiert mich konsequent mit Fachbegriffen. Ich bin jetzt beinahe entspannt und grinse übermütig vor mich hin. Doch dann deutet der Liebste auf das Steuer. Verdammt, ich hätte es wissen müssen – von Anfang an. „Schätzchen, hältst Du mal kurz? Ich muss eben was suchen.“ Ein entsetzter Blick nach links. Das meint er doch jetzt nicht ernst. Nee oder? Doch. Zumindest schaut er ernst und nimmt die Hände vom Steuer. Mechanisch ergreife ich es und halte es fest in beiden Händen.

„Geil oder? Das fühlt sich doch krass an oder? Da muss man mal ein Gefühl für kriegen!“ Ach ja, muss man das? Und wer fragt mich, ob ICH das will? In diesem Moment sehe ich den Süßen an einem Marterpfahl vor mir. Ich führe Kriegstänze und -gesänge auf, mit bunten Federn im Haar und bedrohlich-bemaltem Gesicht. Doch der Pilot, dessen Aufgabe eigentlich das Fliegen ist, kramt mal hier herum, schaut mal dort nach hinten und dann wieder nach vorn. Doch es kommt schlimmer. „Süße, da vorne links siehst Du ein Dorf. Nimmst Du mal Kurs darauf?“ Der hat sie doch nicht mehr alle! Ich reiße die Augen weit auf und sehe mich nicken.

Ich klammere mich an einen Strohhalm: Das Flugzeug hat eine leichte Neigung nach oben, weswegen ich das Dorf nur schlecht sehen kann. Das bedeute ich dem Liebsten, in der Hoffnung, damit aus dem Schneider zu sein und ihm die Kontrolle wieder übergeben zu können. „Ach so! Stimmt ja.“, sagt er enthusiastisch. „Das macht aber gar nichts, Schätzchen! Da drückst Du das Ruder hier einfach ein bisschen rein. So…“ Er nimmt meine Hände und presst sie mitsamt dem Steuer ein Stück nach innen. Ich gucke ihn hasserfüllt an. Das Flugzeug kippt die Nase nach unten. Das wiederum zwingt mich, wieder nach vorn zu schauen. „Da, nun siehst Du es.“ Er grinst mich stolz an. Das wird er bereuen. Und wie! „Gut machst Du das!“, wagt er doch tatsächlich noch zu sagen. „Guck mal, da unten hast Du zwei Pedale. Tritt doch da mal drauf, damit Du siehst, was dann passiert.“ Wäre ich jetzt verheiratet, würde ich mich SOFORT scheiden lassen. Was soll da schon passieren? Bestimmt nichts Gutes! Ich drücke doch da nicht drauf! Ich bin doch nicht irre!

Ich BIN irre. Denn da ist diese unwiderstehliche Faszination. Anscheinend bin ich verrückt geworden, denn abwechselnd trete ich auf das linke, dann auf das rechte Pedal. Ich ärgere mich über meine Inkonsequenz in Sachen Flugangst. Erst fürchte ich es, dann führe ich es – das Flugzeug. Mit noch immer schweißkalten Händen bediene ich mal das Höhen-, dann das Quer- und später wieder das Seitenruder. Der Liebste lobt mich für mein „Gespür fürs Fliegen“, doch ich würde es jetzt spontan als „Überlebenswillen“ bezeichnen.

Mit wackligen Knien, aber trunken vor Glück, steige ich nach der Landung aus der Maschine. Die Sonne lacht noch immer. Doch mit meinem Strahlen mache ich ihr Konkurrenz. Ich möchte fliegen lernen.

Dreier gefällig?

In der „Brotfabrik“ in Berlin-Weißensee läuft derzeit das Musiktheaterstück Dreierleben. Am 13. März wurde es dort uraufgeführt; ich habe es mir am Freitagabend angeschaut.

Jurastudent Fabian steckt in den Examensvorbereitungen. Nervenaufreibend. Vor allem mit dem Strafrecht hat er es schwer. „Ich hab‘ keinen Bock mehr.“ Resigniert pfeffert er sein Lehrbuch auf den Tisch, schaut genervt und verschränkt trotzig die Arme.

Sein Mitbewohner und angehender Arzt Albert hat es nicht leichter: Er schreibt an seiner Doktorarbeit. Und hat Liebeskummer. Warum musste seine Freundin Lara ausgerechnet nach Japan auswandern, um ihrer Musikleidenschaft zu frönen? Und warum ist dieses Land eigentlich so weit weg? Tag für Tag werden Laras Anrufe seltener… „Meine Freundin hat mich für Sushi verlassen!“, wütet Albert herum. Doch die Wahrheit ist, dass es die erste Geige ist, die es ihr angetan hat …

Als wäre das alles nicht anstrengend genug, muss jetzt auch noch ein neuer Mitbewohner her, denn der Dritte im Bunde, Peter, ist kürzlich mit seiner Liebsten zusammengezogen. Die Suche nach einer geeigneten Person gestaltet sich jedoch als schwierige Aufgabe, denn will niemand so recht in Frage kommen: zu flippig, zu nervig, zu anspruchsvoll sind die Bewerber. „Wir melden uns.“ Fabian und Albert lassen seufzend die Schultern hängen.

Dann stellt sich die junge Schauspielerin Renana vor. Sie macht einen guten, fröhlichen Eindruck und ist sehr nett. Daher entscheiden sich die Jungs für sie. Doch auch Renana muss sich im Alltag bewähren: Sie nimmt an Schauspielcastings teil – und kassiert Absagen… Aus der Augenweide wird eine Trauerweide. Doch da ist noch etwas anderes: Renana sorgt für so manche schlaflose Nacht bei Fabian … Gemütliche Drei-Herren-WG ade – es wird turbulent! Wird Renana die „Probezeit“ bestehen?

Sara Fonseca in der Rolle der Renana überzeugt vor allem durch Charme, große Kulleraugen und Lebensfreude. Sie hat ein Glitzern in den Augen, das den Zuschauer in den Bann zieht. Tibor Locher (Fabian) ist Sympathieträger vor allem durch seine tapsige, bisweilen gutmütige, dann und wann bärbeißerische Art; und Mario Zuber alias Albert rührt durch seine emotionale, tiefsinnige und ruhige Art.

An mancher Stelle kann man Humor vom feinsten erleben. Die Lachmuskeln arbeiten. Sehr unterhaltsam, dieses kleine Musical. Die schauspielerische Leistung der Darsteller wurde durch Songs und Balladen unterstützt, wobei mich die Gesangseinlagen nicht sonderlich überzeugt haben.

Den drei Musikern in der Ecke – ebenfalls zwei junge Herren und eine junge Frau an E-Piano, Drums und Cello – gebührt mein vollster Respekt. Vielleicht hätte ich mehr auf die Bühne statt auf die Hingebung der Instrumentalisten achten sollen … Mit ihrem Spaß bei der Arbeit haben sie mich berührt. Schon allein deswegen – und nicht zuletzt auch wegen des Ambientes der „Brotfabrik“ – lohnt es sich, das Stück zu sehen und zu hören. Das kann man dort noch bis zum 19. März.

Nachtlos

Mich fröstelt. Ich erwache mit einer Gänsehaut. Doch es ist nicht kalt, allenfalls kühl. Ich lasse den Blick neben mich gleiten. Er ist da, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ich streiche dem Liebsten über die Wange. Sein Körper macht eine Bewegung in meine Richtung; ein kurzer Seufzer, dann versinkt er wieder im Tiefschlaf. Ich wäre gern in seinen Träumen. Jetzt ist er losgelöst von mir; nur meine Hand hält er fest umschlossen. Er sieht zufrieden aus. In diesem Moment möchte ich ihn mir einverleiben, eine Einheit mit ihm sein. Sehen, was er sieht; fühlen, was er fühlt.

Stille Morgenstunde. Nur das Zirpen der Zikaden. Ich befinde mich in unserem Haus in der Provence. Eine Brise weht durch das halb geöffnete Fenster. Die Bewegung der dunkelblauen Stoffgardinen ist unvorhersehbar elegant: Sie beschreiben rauschende Wellen – wie das Meer draußen vor dem Haus. Ich bin hellwach. Meine Hand ruht noch immer in der des Liebsten. Behutsam mache ich mich von ihr los und richte mich auf. Ein paar Augenblicke verharre ich in dieser Position.

Nachts fühlen sich Minuten und Stunden anders an. Mein Bewusstsein bewegt sich nicht in der Dimension von Raum und Zeit. Ich habe ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Der Funkwecker zeigt leuchtend die frühe Stunde an. Ein ausgeklügeltes System von sechs digitalen Zahlen, deren Dynamik der Reihenfolge nach zunimmt: Links vergeht die Zeit langsamer, rechts läuft sie schneller ab.

Leise stehe ich auf, drücke die Fensterläden weiter nach außen und verweile kurz, den Blick auf das Wasser gerichtet. Ein undurchsichtiges schwarzes Nass. Der Vollmond wirft einen Lichtkegel durch die Schlafzimmertür. Ich gehe ins Arbeitszimmer und zünde ein paar Kerzen an. In der Ecke am Fenster steht der schwere Mahagoni-Schreibtisch, der mich anzustarren scheint. Aus einem der Hängeregister ziehe ich einen Ringblock. Den Füllfederhalter zur Hand nehmend setze ich mich.

Meine Augen haben sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt. Gewöhnen kann man sich wohl an alles. Auch an völlige Finsternis? Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, wie es ist, blind zu sein. Eine Reise in die Vergangenheit – ans Ende des 19. Jahrhunderts. Auf einer Wiese in Alabama liegt ein Mädchen flach auf dem Bauch ausgestreckt, ein Kuscheltier unter dem Kopf. Die reglosen Hände zu beiden Seiten des Körpers platziert. Sie schläft nicht. Die Kleine liegt da und lauscht den Vibrationen des Bodens. Faszination steht ihr ins blasse Gesichtchen geschrieben. Doch so still wie heute erlebt man sie selten. Oft weint und schreit sie, ist wütend und schlägt um sich. Sie hat Angst. Und niemand versteht ihre Zeichen.

Um das Mädchen mit dem lockigen Haar ist es immer Nacht. Helen sieht und hört nichts, denn eine Krankheit hat sie in ihrem zweiten Lebensjahr taubblind gemacht. Sie musste lernen, sich in ihrer stummen Welt allein zurechtzufinden, sich Bilder vom Belebten und Unbelebten selbst zusammenzuphantasieren. Ihre Nase ist geschult, sie kann Dinge durch ihren Geruchssinn unterscheiden. Doch Helen weiß nicht mehr, was sie umgibt. Sie hat vergessen, wie ein Baum aussieht und wie das Gezwitscher von Vögeln klingt… Helen ist ein wildes Wesen, das nur physisch lebt und selten lächelt.

Doch dann taucht eine junge Frau auf und eröffnet der Kleinen eine Perspektive: Anne ist 20 und sehr geduldig. Sie selbst erblindete im Kindesalter fast völlig; viele Operationen gaben ihr das Augenlicht zurück. Anne bändigt und erzieht Helen, zeigt ihr, dass jedes Ding auf Erden einen Namen hat. Die Lehrerin bringt der Schülerin bei, wie man sieht, liest und schreibt – mithilfe des Fingeralphabets. Helen lernt Französisch, absolviert ein Studium cum laude und wird Schriftstellerin. Irgendwann spricht sie sogar. Jetzt ist es eine Gänsehaut der Ergriffenheit, die meinen Körper durchzieht. Ich fühle grenzenlose Bewunderung.

Doch ist Helen je wirklich glücklich gewesen? Hatte sie sich so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie vielleicht sogar Angst davor gehabt hätte, sehen zu können? Zu geballt wären sie auf die Frau eingeströmt, die Farben, die das Leben malt…

Ich sitze noch immer an meinem Schreibtisch und schreibe nicht eine Zeile; nur ein einziges Wort. Es ist der Titel, den meine Gedanken tragen. Nachtlos. Das Meer tost jetzt. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Ich bin glücklich, weil ich sehen und hören kann. Weil ich riechen, schmecken und mich mitteilen kann. Mein Kopf sinkt auf den Schreibtisch. Ich bin schläfrig geworden. Jemand schaukelt mich sanft hin und her – wie in einer Wiege. Ein sicheres Gefühl von Geborgenheit umhüllt mich. Das Schaukeln wird schneller; ich werde hinausgeworfen…

Der Wecker surrt. Es ist 7.00 Uhr, und ich befinde mich in meiner Berliner Altbauwohnung. Die Sonne scheint. Ich blicke zur Seite und lächele: Der Liebste liegt neben mir. Dann stehe ich auf und gehe auf leisen Sohlen ins Arbeitszimmer. Ich bin hellwach.

Mein Leben mit Söhnen